Donnerstag, 15. Mai 2014

Existenzialien passen nicht in Begriffe.

Charles-Raoul Verlet, Orpheus' Klage

Es gibt ‚Gehalte’ des Erlebens, die – jedenfalls innerhalb derselben Kultur – einem jeden bekannt sind und über die er darum mit jedem andern sprechen kann, sofern sie sich über deren Benennung einigen. Sofern sie sie also gemeinsam ‚bezeichnen’ können; ohne daß nur einer von ihnen imstande wäre, den exakten Ort anzugeben, den sie im beweglichen System („Sprachspiel“) all der andern ‚gültigen’ Namen einnehmen – weil sie anscheinend gar nicht darinnen liegen, sondern irgendwo an seiner Grenze. Das sind, mit einem altertümlichen Wort zu reden, Existenzialien, die dem je individuellen Leben gewissermaßen als vorausgesetzt begegnen („Urphänomene“, nach Goethe); wie z. B. Liebe, Leidenschaft, Freiheit, Sinn, Verzweiflung, Schuld, Schönheit, Glück, Ehre und Anstand. (Übrigens auch Komik und… Wissen.) Ein jeder für sich ‚weiß, was gemeint ist’; nur sobald er es einem andern erklären soll, dann geht es ihm wie Augustinus mit der Zeit: Er kann es nicht sagen. Und je kritischer der Geist, der im öffentlichen Diskurs waltet, umso mehr neigen die ‚existenziellen’ Begriffe dazu, aus dem aktiven Wortschatz ganz zu schwinden. 

Daß sie sich seit drei Jahrtausenden – seit das Definieren begonnen hat – der Definition widersetzen, zeigt an, daß sie zur Exposition in diskursiver Wissenschaft nicht taugen. Sie können allenfalls in Bildern gezeigt und in Mythen erzählt werden, denn sie sind uns nie positiv gegeben, sondern immer als Problem. Wir ‚haben’ sie nicht, sondern wir ‚meinen’ sie nur. Das ist dann auch eine Form von Wissen (oder ‚Gewärtigkeit’), aber eben nicht Wissenschaft, sondern Kunst. Die Kunst „erscheint, als hätte sie gelöst, was am Dasein Rätsel ist“, steht bei Th. Adorno. Sie ist nicht das Leben, und sie ‚dient’ ihm auch nicht wie die Wissenschaften. Sondern sie stellt es dar – als sein Anderes, an dem es ‚sich selbst erkennt’. Ob nämlich ihre Verheißung nur eine Täuschung ist, sei selber ein Rätsel, fügte Adorno hinzu. Sie ist eine Lüge, nach Picasso, an der die Wahrheit deutlich wird. Das immerhin hat die Kunst mit der Wissenschaft gemein: daß sie das Andere des Lebens ist.

„Wissenschaft ist Kunst, aber Kunst ist nicht Wissenschaft“, fand der ungarische Musiker Sándor Végh. Und wenn das Leben ‚bestimmt’ werden sollte (was es aber nicht nötig hat), so wäre es nur zu bestimmen als das Andere dieses Anderen.

Bislang: Das Leben ist Arbeit: bestimmt als Bestimmen; als Aneignung der Welt, Ökonomie, Begreifen. Ist nicht aber die Arbeitsgesellschaft am Ende? Je weniger ‚bestimmt’ die Welt nun ist, umso weniger erscheint der irreduzible Rest als unbestimmt! Umso weniger rätselhaft erscheint die Welt – nämlich was „an ihrer Grenze liegt“. Weniger rätselhaft – weniger ‚ästhetisch’?

Oder auch: Was dem „System“ zu Grunde liegt, kommt im System nicht vor. Von „darinnen“ kann man sich seiner nur so eben noch „erinnern“ , eigentlich: eräußern. Und zwar nicht so, als ob es einmal ‚da’ gewesen wäre und dann verloren ging, sondern wie wenn es wohl präsent, aber doch nicht gegeben ist. „Es“ hat dich mehr, als du „es“ hast . Es ist das, worauf alles Andere deutet; sozusagen „die Bedeutung selbst“, vulgo Sinn des Lebens – worum es nämlich „allem Wissen zu tun ist“, welcher Modalität es auch sei. Da es den Begriffen zu Grunde liegt, kann es unter dieselben nicht gefaßt werden. Man kann es nur in Bildern „sehen lassen“ oder Geschichten davon erzählen. Das ist auch ein ‚Wissen von…’, aber ein anschauliches.

Daß der Alltag, alias Werktag und materieller Verkehr der Menschen, in der „postindustriellen“ („Medien“-) Gesellschaft „remythisiert“, also neu „verzaubert“ würde – glaubt das jemand im Ernst? Nein, der Alltag schrumpft, nimmt weniger Platz ein im Leben, er wird weniger. Und mit ihm schrumpft die Erwachsenheit der Menschen. Wogegen der Sinn des Lebens bedeutender wird, nämlich unmittelbarer bedeutend. Das tägliche Leben wird unalltäglicher. Nicht, daß die Figuren, in denen vom Sinn des Lebens erzählt wird, unästhetischer würden. Nur wird ihre anschauliche Gegebenheitsweise nicht mehr in aggressivem Gegensatz stehen zum diskursiven Verstand; weil der jetzt weiß, wo er hin gehört und wohin nicht.

August 9, 2010

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