Dienstag, 17. Juni 2014

Wie Vaihingers 'Philosophie des Als-Ob' entstand.


von HANS VAIHINGER, 1852 - 1933
 
... Schillers philosophische Abhandlungen waren mir freilich noch zu schwer; aber verständlich und von großem Einfluß auf mein Denken war mir die Lehre Schillers vom Spieltrieb, als dem Grundelement des künstlerischen Schaffens und Genießens: denn im Spielen erkannte ich später das Als-Ob, als den treibenden Kern des ästhetischen Tuns und Schauens.

... Mit nichts zu vergleichen aber ist der Eindruck, den KANT auf mich gemacht. Er war mir in jeder Hinsicht ein Befreier, ohne mich zu binden. Die kühne Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit befreit immer den Geist von der Unmittelbarkeit, von dem Druck der materiellen Welt, auch wenn man bald erkennt, daß sie in dieser Form auf die Dauer nicht haltbar ist. Was mich aber am meisten faßte, das war die Entdeckung KANTs von den Widersprüchen, in welche das menschliche Denken verfällt, wenn es sich in das Gebiet der Metaphysik wagt: diese Antinomienlehre KANTs war von tiefgehendem Einfluß auf mich. Neben dieser Begrenzung des Wissens auf die Erfahrung war mir noch ein Gewinn die Kantische Erkenntnis, daß das Praktische, das Handeln den ersten Rang einzunehmen habe, also der sog. Primat der praktischen Vernunft. Dies sagte meinem innersten Wesen besonders zu.

So war es denn natürlich, daß die Systeme von FICHTE, SCHELLING, HEGEL mich trotz ihrer großartigen Architektur und trotz ihrer großzügigen Gedankenführung nicht auf die Dauer fesseln konnten, obgleich ich, gemäß dem Lehrplan des Tübinger Stifts, mich gerade an diesen drei Systemen ganz besonders vertraut machte. Auch an FICHTE gefiel mir aber die Bevorzugung des Praktischen und an HEGEL seine Lehre vom Widerspruch und von dessen Bedeutung für das natürliche Denken und für die Wirklichkeit.

Der offizielle Lehrplan führte nun von dem "deutschen Idealismus" FICHTES, SCHELLINGS und HEGELS direkt zu SCHLEIERMACHER. Es war ein ganz persönliche Abweichung von diesem normalen Lehrgang, daß ich mich nun zu SCHOPENHAUER wandte, denn dieser war bis dahin ignoriert, ja verpönt. Aber die damals großes Aufsehen machende "Philosophie des Unbewußten" von E. von HARTMANN, die freilich auch für das Stift offiziell nicht vorhanden war, die ich aber natürlich mir verschafft hatte, wies ja auf SCHOPENHAUER zurück, der auch sonst überall in der Literatur viel genannt wurde. So ging ich an die Quelle und studierte SCHOPENHAUER gründlich und vollständig.

Mir gab SCHOPENHAUERS Lehre Neues, Großes und Dauerndes: den Pessimismus, den Irrationalismus und den Voluntarismus. Der Eindruck, den dies auf mich machte, war zwar nicht extensiv, aber intensiv noch größer, als der von KANT ausging. Um dies zu erklären, muß ich etwas weiter ausholen.

In allen Systemen der Philosophie, die ich bis dahin kennengelernt hatte, war das Irrationale der Welt und des Lebens nicht oder wenigstens ganz ungenügend zur Geltung gekommen: das Ideal der Philosophie war ja eben, alles rationell zu erklären, d.h. durch logisches Schließen als rational zu erweisen, d.h. als logisch, als sinnvoll, als zweckmäßig. Diesem Ideal war die Hegelsche Philosophie am nächsten gekommen, die immer noch als Höchstleistung der Philosophie galt. Dieses ganze Erkenntnisideal hatte mich aber unbefriedigt gelassen: ich hatte einen viel zu scharfen und offenen Blick für das Irrationale, sowohl in der Natur als in der Geschichte.

... empfand ich es als einen Mangel an Aufrichtigkeit, daß die meisten Systeme der Philosophie das Irrationale mehr oder minder zu vertuschen suchten. Nun trat mir zum erstenmal ein Mann entgegen, der offen und ehrlich die Irrationalitäten anerkannte und in seinem philosophischen System zu erklären versuchte.

So erschien mir SCHOPENHAUERs Wahrheitsliebe als eine Offenbarung. Seinen metaphysischen Konstruktionen folgte ich nicht, da mir ja von KANT her die Unmöglichkeit aller Metaphysik einleuchtend erschien. Aber was an der Lehre SCHOPENHAUERs empirisch sich mir bestätigte, wurde mir zu dauerndem Eigentum und fruchtbarem Antrieb, besonders soweit es sich mit der damals im Vordergrund stehenden Entwicklungslehre und mit der Theorie vom Kampf ums Dasein verbinden ließ bzw. berührte.

Daß mir bei KANT und bei FICHTE die Voranstellung des Praktischen besonders gefiel, habe ich schon erwähnt. Bei SCHOPENHAUER fand ich dieselbe Tendenz, aber viel klarer, viel stärker, viel umfassender. Jetzt wurde nicht die in der Luft schwebende "praktische Vernunft" in den Vordergrund gestellt, sondern das empirisch psychologische Element des "Willens". Damit erschien mir vieles bisher Unerklärliche erklärt oder wenigstens erklärbar.

Was mir besonders einleuchtete, das war der Nachweis, daß das Denken ursprünglich nur dem Willen dient, als Mittel zu seinen Zwecken und daß das Denken erst im Laufe der Entwicklung sich von der Leitung des Willens emanzipiert und zu einem Selbstzweck wird. Schon SCHOPENHAUER selbst zeigte, daß das Gehirn bei den Tieren ursprünglich ganz klein sei, aber dann auch gerade als Organ zur Ausführung der Willenszwecke genüge, daß es aber bei den höheren Tieren und besonders bei den Menschen eine geradezu unverhältnismäßiges Wachstum angenommen habe. Die gleichzeitige Ausbildung der Darwinschen Entwicklungslehre bestätigte diese Auffassung SCHOPENHAUERs, die mir eine Grundeinsicht in die Wirklichkeit gab.

... Das Denken, das ursprünglich dem Willen diente und sich nachher zum Selbstzweck aufschwingt, war nur der einleuchtendste Spezialfall eines ganz allgemeinen Naturgesetzes, das im ganzen organischen Leben und in der Geschichte sich überall und immer aufs neue bestätigt. ...

Jene Schopenhauersche Lehre, daß das Denken von Hause aus ein unselbständiges Mittel zum Zweck des Lebenswillens sei und sich nur sozusagen widerrechtlich zu einem Selbstzweck entwickelt habe, rundete sich nun für mich mit der Lehre KANTs zusammen, daß das menschliche Denken an bestimmte Grenzen gebunden sei und daß ihm metaphysische Erkenntnis unmöglich sei. Diese Begrenzung der menschlichen Erkenntnis auf die Erfahrung, die KANT immer und immer wieder betont, erschien mir nun aber nicht mehr als beklagenswerter Mangel des menschlichen Geistes gegenüber einem eventuell höheren Geiste, der nicht an jene Grenzen gebunden sei, sondern jene Begrenzung der menschlichen Erkenntnis ergab sich mir nun als eine notwendige und natürliche Folge jenes Umstandes, daß ja Denken und Erkennen ursprünglich nur Mittel zur Erreichung des Lebenszweckes sind, daß also ihre Verselbständigung eine Losreißung von ihrem ursprünglichen Zweck bedeutet, und daß also das Denken durch jene Losreißung sich unerfüllbare Aufgaben stellt, Aufgaben, die nicht bloß dem menschlichen Denken unerfüllbar sind, während sie einem höheren Denken erfüllbar wären, sondern Aufgaben, die jedem Denken als solchem in sich und an sich unmögliche Leistungen zumutet. Diese Einsicht ist eine der festesten Grundlagen meiner Weltanschauung geworden, die von jener Zeit an in mir wuchs und sich mit den Jahren immer klarbewußter herauskristallisierte.

Noch ein weiterer mächtiger Einfluß, der in derselben Linie arbeitete, machte sich um jene Zeit zwischen 1872 und 1873 geltend. Es fiel mir das Buch von ADOLF HORWICZ in die Hände, "Psychologische Analysen auf physiologischer Grundlage". HORWICZ legte in diesem Werke der ganzen Psychologie das sogenannte Reflexschema zugrunde: Gefühlseindruck infolge von Reizen - Vorstellungen und weiterhin Denken - Ausdrucksbewegung und Willenshandlung.

Die einfachsten Reflexe sind Bewegungserscheinungen infolge von Reizen. Diese Reize müssen schon elementare Gefühle zur Folge haben, die dann eben entsprechende Bewegungen auslösen, die den elementarsten Anfang von Willenshandlungen darstellen. Zwischen jenen Eindrücken einerseits und dem Bewegungsausdruck andererseits schieben sich nun zuerst elementare, dann immer kompliziertere Vorstellungen ein, die in ihrer höchsten Vollendung als Denkvorgänge bezeichnet werden.

So erscheint denn das Vorstellen und weiterhin das Denken als ein bloßes Verbindungsglied,* als eine Vermittelung zwischen Eindruck einerseits und Ausdruck andererseits. Diese von HORWICZ sehr sorgfältig und sehr umsichtig durchgeführte Lehre stimmte nun ja sehr gut zu jener mir von SCHOPENHAUER überkommenen Auffassung, daß das Denken ursprünglich nur Mittel zum Zweck des Willens sei und beides stimmte zusammen mit jener von KANT herübergenommenen Überzeugung vom Primat des Praktischen.



*) vgl. Ernst Cassirer, bei dem zwischen Jakob von Uexkülls Merknetz und Wirknetz das dem Menschen spezifische Symbolnetz tritt. JE

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aus "Hans Vaihinger" in: Raymund Schmidt (Hrsg.), Die deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1924

Nota. 

Da will ich denn auchmal etwas Biographisches erzählen. 

Nein, ich bin weder von Fichte zu Vaihinger noch von Vaihinger zu Fichte gekommen. Nach einem wie Fichte, der mir erlaubte, beim Studium von Marx mir die Hegel'sche Substanz vom Hals zu schaffen, hatte ich schon lange gesucht; vergeblich. Auf Vaihinger bin ich nicht aus philosophischen, sondern aus beruf- lichen Motiven gestoßen, als ich mir nämlich mit Alfred Adlers pragmatischer Charakterkunde gerade das Freud'sche Wahnsystem vom Hals geschafft hatte. Die Bekanntnschaft mit Vaihinger hat es mir allerdings leichter gemacht, Fichte, als ich ihn dann doch gefunden habe, als den zu erkennen, nach dem ich gesucht hatte.
JE 

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