Sonntag, 7. September 2014

Das Costa-Experiment, I.


Caillebotte, Pont de l'Europe

Variante I. Zum abscheulichen Costa-Experiment gab es eine simplere Vorstufe. Die ging so: Sie stehen an der Weiche eines Bahngleises, ein Zug donnert mit Höchstgeschindigkeit heran, weiter unten stehen Leute - auf beiden Gleisen, aber so weit, dass Sie sie mit Rufen nicht warnen können. Die Weiche ist so gestellt, dass der Zug in eine Gruppe von fünf Leuten fährt, auf dem andern Gleis ist nur einer. Sie können die Weiche umlegen. Wie wüden Sie sich entscheiden?
 
Variante II. Costas Variante: Sie stehen auf einer Fußgängerbrücke, unter der ein Zug auf fünf Menschen zurast, und es besteht nur diese eine Möglichkeit, das Leben der Fünf zu retten: Sie müssten den dicken Mann, der neben Ihnen auf der Brücke steht, auf die Gleise stoßen.


Variante I.

1. Der Eine auf dem Gleis ist ein Kind.

2. Die Fünf sind KZ-Aufseher. Der Eine ist ein entflohener Häftling. Wie würden Sie sich entscheiden?

- Ach, sie wussten es ja nicht, Sie haben den einen geopfert? Aber Sie erfahren es hinterher, als die SS-Männer zu Ihnen kommen und sich beschweren: Das hätten sie doch gerne selbst besorgt...


3. Bei dem Einen handelt es sich deutlich sichtbar um einen geistig Behinderten.

4. Die Fünf sind offenkundig geistig behindert. 


Variante II.


1. Der Dicke neben Ihnen hat gerade erzählt, dass er auf dem Weg ins Krankenhaus ist und seinen Jungen besucht, der einen Verkehrsunfall hatte.

2. Sie haben ihn gerade um Feuer gebeten und er hat es Ihnen gegeben; es war sein letztes Streichholz.

3. Er hat Sie gerade um Feuer gebeten und Sie haben es Ihm gegeben. (Es war... )

4. Die Sonne scheint und er hat Sie freundlich angelächelt.

- Die Details stören nur die grundsätzliche Frage? Fragen der Moral sind nie grundsätzlich, sondern immer konkret. Sie stellen sich hier und jetzt an Sie und an keinen andern, in einer Weise, wie sie sich nie an einen andern gestellt haben und nie wieder stellen werden; und sei es nur, weil der andere immer ein Anderer ist. 

Details gibt es immer, nur wird man sie nie alle im selben Augenblick gewärtig haben, Sie müssen sich nach dem richten, was Sie wissen, und riskieren in jedem Fall ein schlechtes Gewissen, wenn Sie hinterher alles erfahren. Und irgendeinen Grund, sich dem einen eher verpflichtet zu fühlen als dem andern, gibt es fast immer. Und ist das nichts: sich verpflichtet fühlen?

Darum geht es bei der Moral nämlich: um das Gewissen. Und darum, dass Sie nie auf Nummer sicher gehen können. Manchmal müssen Sie froh sein, nur ein schlechtes Gewissen haben zu müssen und nicht ein noch schlechteres.

Aber das ist hinterher. Vorher müssen Sie wissen, dass Sie ein gewöhnlicher Sterblicher sind und nicht der Herr über Leben und Tod; und sich ansonsten an Ihre innere Stimme halten, die meldet sich bestimmt; und können nur hoffen, dass Sie diese moralische Prüfung ohne allzu große Versehrungen durchstehen werden.



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