Montag, 1. September 2014

Doctor subtilis mit dem Rasiermesser.


Grundbegriffe aus Wilhelm von Ockhams "Summa Logicae"  

von Ruedi Imbach
Pluralitas non est ponenda sine necessitate.
Eine Vielheit darf nicht gesetzt werden,
ohne daß es notwendig ist.
     
    Wie es Sprachzeichen gibt, welche sich nicht auf außersprachliche Gegenstände beziehen, sondern Zeichen sprachlicher Zeichen darstellen, ebenso gibt es mentale Termini, die nicht Zeichen von Dingen, sondern Zeichen mentaler Zeichen sind. In Übereinstimmung mit der logischen Tradition arabischer Prägung nennt Ockham sie Namen zweiter Intention (Text 9). Im Zusammenhang mit der Klärung dieses Begriffes stellt sich das grundsätzliche Problem von Ursprung, Funktion und Wesen der Allgemeinbegriffe. (Texte 10 bis 11)*

    Diese Fragen sind von grundlegender philosophischer Relevanz, wird doch der Bezug menschlicher Begriffe zu der extramentalen Wirklichkeit diskutiert. Der von Ockham kritisierte Realismus - in allen seinen z.T. recht subtilen Varianten - bemüht sich, den Wirklichkeitsgehalt der Universalien zu retten. Aus diesem Grunde muß er behaupten, den Universalien entspreche etwas in der extramentalen Wirklichkeit.

    Ockhams Widerlegung aller Formen des erkenntnistheoretischen Realismus ist einfach, radikal und folgenreich: Nur Begriffe (und sprachliche Zeichen) sind allgemein; das wirklich Existierende dagegen ist durch und durch individuell. Keine noch so scharfsinnige Zurechtlegung vermag diesen Gegensatz zu überwinden: "Es ist ebenso unmöglich, daß ein extramentales Ding ein Universale sei ..., wie es unmöglich ist, daß ein Mensch mit dem Denken oder dem Sein nach ein Esel sei".

    Die Funktion universaler Begriffe bei der menschlichen Erkenntnis der individuellen Wirklichkeit ergibt sich von selbst, wenn man sich an das bereits Ausgeführte erinnert: Die Intentionen, Begriffe sind Zeichen, deren Aufgabe nicht im Abbilden extramentaler Gegenstände besteht, sondern im Verweisen darauf. In gleicher Weise, wie die sprachlichen Zeichen durch ihre Bedeutung auf etwas hinweisen und in einem Satz für etwas stehen können, sind die Begriffe allgemeine Zeichen, welche in mentalen Sätzen für individuelle Dinge stehen können.

    Ockhams Lehre vom Begriff als Zeichen revolutioniert die mittelalterliche Erkenntnistheorie, wenn sie die traditionelle Auffassung - der Begriff als Bild des Erkannten - an der Wurzel zerstört. Mit der Abbildtheorie wird zugleich die Abstraktionstheorie, welche erklären sollte, wie der Intellekt den Allgemeinbegriff aus dem sinnlichen, individuellen Vorstellungsbild ablöst, hinfällig und überflüssig. Weil Ockham in erster Linie eine negative Kritik intendiert - er insistiert auf der Destruktion eines Aberglaubens -, interessiert er sich kaum für die Frage nach dem Ursprung der Universalien. Sie sind für ihn Bestandteile einer natürlichen Sprache, die sich bei der Begegnung mit der Außenwelt von selbst ergibt.

    Bezüglich der Natur oder des Wesens der Begriffe hat sich die Auffassung Ockhams entwickelt. Im Text 9 (4)  schlägt [er] drei mögliche Lösungen dieses Problems vor, die er zuvor im Sentenzenkommentar und im Kommentar zu Peri Hermenias als wahrscheinlich beurteilt hatte. Die erste dieser drei Thesen unterstellt, das Universale sei eine Erfindung oder ein Produkt des Intellekts (fictum, idolum), welches sein Sein allein der Tätigkeit des Intellekts verdanke. Das eigentümliche Sein  dieser Fiktionen, welches vom wirklichen Existieren der Dinge abgehoben werden muß, nennt Ockham esse intentionale oder esse obiectivum. 

    Die zweite mögliche Antwort lautet: Das Universale ist eine Qualität der Seele, d.h. aber ein wirklich existierendes Akzidens der Seele, welches als solches ein rein real existierendes Einzelding ist, das aber von mehreren ausgesagt werden kann, wie ein einzelner Laut von mehreren Dingen ausgesagt werden kann. Diese Qualität der Seele  welche in zwei Varianten gedacht werden kann, nämlich 1. als mit dem Erkenntnisakt identisch oder 2. als von ihm verschieden, wäre als ein Seiendes in der Seele (ens in anima) zu deuten, das als Akzidens der Seele zu den wirklich Seienden (entia realia positiva) gehört.

    In den beiden genannten Texten will sich Ockham für keine der drei Lösungen entscheiden. Die späteren Schriften argumentieren hingegen eindeutig für die Identifikation des Universale mit dem Erkenntnisakt. Diese Lösung, welche dem Ökonomieprinzip entgegenkommt und alle denkbaren Zusatzhypothesen ausschaltet, besagt: Das Universale ist ein Akt des Intellekts, der als solcher wahrhaft existiert, nämlich als Einzelding, das ebenso wirklich ist wie die schwarze Farbe des Tisches, auf dem ich schreibe, aber von Natur aus Zeichen eines anderen sein kann und als solches Zeichen universal ist.

    Die Hintergründe und Konsequenzen von Ockhams Antwort auf die Universalienfrage sind bedenkenswert. Die radikal kontingente Welt kann nicht mehr als Nachahmung göttlicher Ideen-Vorbilder im traditionellen Sinne gelesen werden. Dieser Verlust einer idealen, einheitlichen und erkennbaren Ordnung begünstigt einerseits das Individuelle in seiner absoluten, irreduziblen und einzigartigen Seinsweise. Andererseits wandelt sich die Stellung des erkennenden Subjekts, denn die kritische Aufhebung einer natürlichen Zuordnung von Denken und Sein, Intellekt und Wirklichkeit entreißt das Subjekt seiner selbstvergessenen Hingabe an das Objekt und bereitet durch das Wissen um die Differenz von Denken und Sein die Geburt des Selbstbewußtseins vor.
    Ockhams Universalienlehre stellt vordergründig die Antwort auf eine überkommene Schulfrage der Philosophie dar, sei impliziert aber eine ganze Weltauslegung und hat in ihrer Wirkung zu einer Umgestaltung der menschlichen Selbstauslegung beigetragen. 
     
    *) (bezieht sich auf die Textsammlung, zu dem die Beitrag die Einleitung gibt.)

aus Wilhelm von Ockham, Texte zur Theorie der Erkenntnis und der Wissenschaft, lat.-dt. (Hrsg. Ruedi Imbach), Stuttgart 1984, Reclam; Einleitung des Herausgebers.


Nota.

Doch immer zu bedenken: Die Dinge selbst bleiben auch bei den strengtsen Nominalisten "an sich". Kommt es einem beim Lesen auch immer wieder so vor, als müsse Ockham spätestens auf der nächsten Seite auf den transzendentalen Gedanken kommen, weicht er jedesmal wieder aus. Die Polemik gegen die Realität der Universalbegriffe geht gegen Platos Ideenlehre - und zwar im Namen der monadischen Entelechien des Aristoteles. Die sind individua, aber eben auch der Erkenntnis verschlossen: De singularibus non est scientia. Die Männer der Wolff-Leibnz'schen Schule, aus der auch Kant gekommen war, waren Aristoteliker und keine Platoniker, und nur so ist das "Ding an sich" zu verstehen, welches Kant als vorkritisches Caput mortuum mit sich schleppte.
JE

 

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