Montag, 22. Dezember 2014

Ist ein Sinn in der Natur?

Materialisierte Energie aus dem Urknall: ein Wasserstoffatom, kunstvoll fotografisch in Szene gesetzt von Fritz Goro, 1949. aus nzz.ch, 20. 12. 2014                                                                                                                   Wasserstoffatom; Bild: Fritz Goro 1949           
Suche nach dem Sinn unseres Lebens 
Urknall, Sternenasche und ein Fragezeichen
Hat das menschliche Leben, hat das Leben überhaupt einen Sinn? Wie liesse er sich finden? Und können die Naturwissenschaften uns bei der Suche den Weg weisen?

von Gottfried Schatz

Vor zwei Jahrtausenden versuchte man noch, die Existenz Gottes und damit auch den Sinn menschlichen Lebens wissenschaftlich zu beweisen. Vor viereinhalb Jahrhunderten galt die Erde als Mittelpunkt des Universums. Und noch vor zwei Jahrhunderten glaubten viele, die Natur und mit ihr die Menschheit strebten dem Ziel höchster Vollkommenheit zu. Dies erschien als ein Beweis für die ordnende Hand Gottes, der uns Menschen als Krone der Schöpfung erwählt hat. 

Energiepunkt, Materieklumpen 

Heute ist von all dem nicht viel übrig geblieben. Wir haben eingesehen, dass es einen wissenschaftlichen Gottesbeweis nie geben wird, obwohl einige der klügsten Köpfe der Geschichte ihn gesucht haben. Die Astronomen der Renaissance zeigten dann, dass unsere Erde nur ein unbedeutender Himmelskörper unter Abermilliarden anderen ist. Im Jahre 1858 verkündete dann Charles Darwin, dass die Entwicklung des Lebens ein blinder Prozess ist, in dem neuartige Lebensformen durch zufällige Variation bestehender Formen und Selektion der Varianten durch die Umwelt entstehen. Damit war auch die Entwicklung des Lebens nicht mehr ein Beweis für ein göttliches Walten, das der biologischen Evolution Ziel und Sinn gibt.


Vor etwa achtzig Jahren erkannten dann Astronomen, dass unser Universum vor Milliarden von Jahren durch die Explosion eines unendlich kleinen Energiepunkts im sogenannten Urknall entstand und sich immer noch ausdehnt. Diese Entdeckung besiegelte die Erkenntnis, dass unerbittliche physikalische und chemische Gesetze das Schicksal der Welt bestimmen. Dieses neue Weltbild degradierte den Menschen zu einem winzigen und unbeständigen Materieklumpen in einem chemisch primitiven Universum. Es schien, als hätten die Naturwissenschaften uns unsere Würde und unsere Träume geraubt und dafür nur Tatsachen gegeben. 


Die Naturwissenschaften schenkten uns jedoch neue Träume von fast atemberaubender Dramatik und Schönheit. Und nichts hat die Einmaligkeit und Würde jedes Menschen so eindrücklich offenbart wie die moderne Biologie. Das naturwissenschaftliche Weltbild des 21. Jahrhunderts zeigt uns ein Universum voller Rätsel, in dem lebendige Materie eine fast unfassbar kostbare Ausnahme ist. 


Der Urknall war eine gewaltige Explosion von Strahlungsenergie. Ein Teil dieser Strahlung war das, was unser Auge als Licht wahrnimmt. Als das Universum sich ausdehnte, verdichtete sich ein Teil der Strahlungsenergie zu Materie, die schliesslich Wasserstoffatome bildete – die einfachsten aller Atome. Als sich immer mehr Strahlung in Materie verwandelte, wurde es im Universum finster. Doch dann ballten sich riesige Wolken von Wasserstoffgas unter der eigenen Schwerkraft zusammen und erhitzten sich dabei so stark, dass Wasserstoffatome miteinander verschmolzen und dabei ungeheure Energiemengen freisetzten. 




Die nuklearen Feuer der Sterne hatten gezündet und schenkten dem Universum wieder Licht. Diese ersten Sonnen leuchteten für etwa zehn Milliarden Jahre, bis ihr nuklearer Brennstoff sich erschöpfte. Einige schleuderten bei ihrem Tod ihre Asche weit ins Weltall, andere explodierten und schmiedeten dabei schwere Atome, wie Kupfer, Gold und Uran, die es vorher nicht gegeben hatte. Die Sternenasche verdichtete sich wiederum zu Wolken und erhitzte sich dabei, so dass schliesslich auch in diesen Wolken nukleare Feuer zu brennen begannen. Unsere Sonne ist ein solcher Stern der zweiten Generation. Als sie sich vor etwa viereinhalb Milliarden Jahren aus einer Gaswolke zusammenzog, verlor sie die äusseren Schichten und gebar so die Planeten – wie unsere Erde. 


Kaum hatte sich diese Erde so weit abgekühlt, dass sie eine feste Kruste besass, stiess sie mit einem gewaltigen Meteor oder verirrten Planeten zusammen, der sie wieder in einen flüssigen Feuerball verwandelte und ihr dabei den Mond entriss. Als dann nach einigen hundert Millionen Jahren wieder Ruhe einkehrte, regte sich auf der Erde Leben. Wie es entstand, werden wir wohl nie mit Sicherheit wissen. Vielleicht formte es sich in heissen Meteorkratern oder Vulkanschächten, die als Retorten für die Bildung der komplexen Moleküle des Lebens dienten. Diese Moleküle lagerten sich zu immer komplexeren Aggregaten zusammen, bis schliesslich ein Aggregat sich fortpflanzte, seine Zusammensetzung und Funktionsweise in Genen niederschrieb und sich zu immer höheren Lebensformen entwickelte. 


Eine solche spontane Entstehung des Lebens war unendlich unwahrscheinlich, doch da die Natur sie über Hunderte von Millionen Jahren unendlich oft versuchte, fand sie dennoch statt. Es brauchte ja nur ein einziges erfolgreiches Experiment, um den Funken des Lebens zu zünden. Vielleicht aber entstand das Leben auf anderen Himmelskörpern und kam dann auf Meteoren oder Kometen zu uns. Sicher ist nur, dass alle heutigen Lebewesen von einer einzigen Zelle abstammen. An diesem wundersamen Baum des Lebens sind wir Menschen nur ein später Zweig. 


Dieser Baum besteht aus der komplexesten Materie, die wir bisher im Universum gefunden haben – und in dieser Materie-Aristokratie sind wir Menschen eine besondere Elite, die nicht nur die Umwelt wahrnehmen und denken, sondern auch über sich selbst nachdenken kann. Doch wie frei sind wir in unserem Denken und Handeln? Bis vor kurzem schien es, dass jeder Mensch eine biochemische Maschine ist, die streng von ererbten Genen gesteuert wird. Nun aber haben Biologen erkannt, dass unsere Umwelt, unser Lebensstil und sogar unser Umgang mit anderen Menschen diese Gene verändern kann und wir einige dieser erworbenen «epigenetischen» Veränderungen sogar an unsere Nachkommen weitergeben können. 


Gene 

Versetzt man einer Maus einen leichten Elektroschock, dann zuckt sie zusammen. Sie tut dies auch, wenn sie dabei einen bestimmten Duftstoff riecht. Nach mehrmaliger Wiederholung zuckt die Maus auch dann zusammen, wenn sie nur den Duftstoff riecht, und vererbt diese Furchtreaktion an ihre Nachkommen, die nie den Duftstoff gerochen oder einen Elektroschock erlitten haben. Die Furchtreaktion wird selbst dann vererbt, wenn die Nachkommen von unbehandelten Leihmüttern aufgezogen oder durch In-vitro-Befruchtung gezeugt werden. Bei dieser epigenetischen Vererbung werden Gene verändert, welche die Erkennung von Duftstoffen steuern. Auch bei uns Menschen können Hunger oder andere Belastungen der Eltern die Nachkommen psychisch und körperlich schädigen. Und jeder Sozialarbeiter weiss, dass Drogenabhängigkeit, Depression und Gewaltbereitschaft einen unglücklichen Teufelskreis bilden, der eine Generation nach der anderen gefangen hält. 


Wir sind also zum Teil für unsere eigenen Gene und die unserer Nachkommen verantwortlich. Ja mehr noch, wir beeinflussen sogar die Gene unserer Mitmenschen und von deren Nachkommen. Nichts zeigt uns deutlicher, wie eng wir in das Netz des Lebens eingebunden sind und wie sehr wir dazu beitragen können, dieses Netz menschlicher zu gestalten. Unsere Gene bestimmen die Grenzen dessen, was wir sein können, doch erst die Wechselwirkung mit unserem sozialen Umfeld macht uns zu Menschen. Diese biologische Erkenntnis fordert uns auf, dafür zu sorgen, dass es unseren Mitmenschen gutgeht. Diese Aufforderung ist Teil meines eigenen Lebenssinns. 


Die Würde der Suche 

Unser Gehirn enthält etwa hundert Milliarden Nervenzellen, von denen jede mit Hunderten oder sogar Tausenden anderer Nervenzellen vernetzt ist. Dies erlaubt unendlich viele Kombinationen, die sich zum grossen Teil erst während der Reife zum erwachsenen Menschen ausbilden. Die Zahl dieser Kombinationen übersteigt bei weitem die Zahl aller Menschen, die je gelebt haben, so dass jeder Mensch in seinem Denken und Fühlen einmalig ist. Diese Einmaligkeit jedes Menschen kommt dem am nächsten, was wir gemeinhin Seele nennen. 


Vor dem Urknall steht ein Fragezeichen, das sich der Wissenschaft entzieht. Wer in diesem Fragezeichen einen göttlichen Schöpfer sieht, hat das Fragezeichen für sich beantwortet. Mir jedoch genügt das Fragezeichen. Wahrscheinlich könnte ich die Antwort darauf nicht begreifen – und wenn ich es könnte, lehrt mich die Wissenschaft, dass jede Antwort nur eine neue Frage aufwirft. Wissenschaft fordert Bescheidenheit. Auch dies ist Teil meines Lebenssinns. 


Die Suche nach dem Sinn des Lebens ist eine Suche nach der eigenen Würde. Im Jahre 1952 beschrieb der russische Physiker George Gamow diese Würde mit folgenden Worten: «Das Universum brauchte weniger als eine Stunde, um Atome zu schaffen. Es brauchte einige hundert Millionen Jahre, um Sterne und Planeten zu schaffen. Aber es brauchte fünf Milliarden Jahre, um uns Menschen zu schaffen.» Heute wissen wir, dass es nicht fünf, sondern vierzehn Milliarden Jahre waren. 


Der Biochemiker Dr. Gottfried Schatz ist emeritierter Professorder Universität Basel. Bei NZZ-Libro sind erschienen: «Jenseits der Gene», «Zaubergarten Biologie» und «Feuersucher. Die Jagd nachden Rätseln der Lebensenergie». 


Nota. - Gottfried Schatz ist ein kluger Kopf, das weiß ich aus vielen seiner Beiträge, die die NZZ gebracht hat. Aber als ich sah, dass er zum Vierten Advent etwas über den Sinn des Lebens verfasst hat, wurde mir doch mulmig. Ich dachte, da würde ich wohl einen langen Kommentar schreiben müssen. Dann habe ich es gelesen, und jetzt bringe ich es Ihnen ganz unkommentieret.
JE

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