Dienstag, 26. Januar 2016

Mein System.

Tinguely, Fastnachtsbrunnen 

Lieber Leser, 'mein System', von dem ich immer wieder rede und von dem Sie vielleicht doch noch nicht viel erkennen konnten, nimmt langsam Gestalt an; weniger literarisch als sachlich. Das Ästhetische schimmert immer öfter aus dem Strom der Wörter hervor, und nicht bloß als thematischer roter Faden oder als Hintergrundrauschen, das alle andern Töne einfärbt, sondern als das Bindemittel zwischen der Anthropologie auf der empirischen und der Transzendentalphilosophie auf der theoretischen Seite.

Das klingt nun ebenso eitel wie trivial; wenn man nämlich von dem Ästhetischen einen trivialen Begriff hat. Ich fasse aber das Ästhetische (wie Fichte an Schiller schrieb) so weit, wie Sie es sich nicht einmal träumen lassen. So weit und so scharf, wie ich ergänzend hinzufüge, und dann ist es nicht mehr trivial.



Auf den ersten Blick ist es freilich das Thema der Vernunft, durch das die Anthropologie mit der Transzendentalphilosophie zusammenhängt; als das specificum humanum hier und als Medium und Gegenstand dort: Selbstreflexion der Intelligenz.

Die Intelligenz selber zeichnet das Humane schon lange nicht mehr aus. Je länger die Ethologen observieren, um so weiter wird das Feld der tierischen Intelligenz. Angefangen hat es mit dem Werkzeuggebrauch der Schimpansen, inzwischen sind wir bei absichtlicher Täuschung und Perspektivenwechsel bei den Rabenvögeln, und wer weiß, was noch kommt.

Es ist wohl wahr, tierische Intelligenz manifestiert sich immer punktuell und momentan, nur bei der Familie Homo ist ihr Gebrauch habituell und ubiquitär. Wäre das kein Unterschied? Es wäre keiner, der sich bestimmen lässt. Denn dazu müsstest du eine Grenze ziehen. Doch auf welchen Punkt du immer reflektierst, der Übergang ist fließend.

Qualitativ dagegen ist dieser Unterschied: Im Tierreich steht aller Intelligenzgebrauch im Dienste der Selbst- oder der Arterhaltung, auch da, wo er nicht genetisch, sondern kulturell vererbt wirbt. Allein Homo sapiens bemüht – und je länger seine Geschichte auf Erden dauert, umso wissentlicher – Zwecke, die abseits der Erhaltungsfunktion liegen: Verum, bonum, pulchrum.

Das ist es, was den Menschen vor andern Lebewesen auszeichnet: Er kann nicht nur wahr-, sondern auch wertnehmen. Und recht eigentlich muss er wertnehmen, so dass Max Scheler sagen konnte: Wertnehmen kommt vor wahrnehmen, es ist seine Bedingung.

Das ist ein Satz, der der Anthropologie ebenso angehört wie der Transzendentalphilosophie, die das Praktische vor und über das Theoretische stellt. Wertnehmen ist das Wahrnehmen von Qualitäten, und so nennen wir Eigenschaften, die schlechterdings – "ohne Interesse" – von einem Urteil des Beifallens oder der Missbilligung begleitet sind. Und eben das ist das Ästhetische.

Was morphologisch der aufrechte Gang für die Hominisation bedeutete, bedeutet für die geistige Hominisation die Entwicklung seines ästhetischen Vermögens. Es ist der Stoff der Vernunft.

 

So weit die Anthropologie.

Vernunft nennen wir nun diejenige Intelligenz, die nicht nur die Wirkzusammenhänge der Dinge in Hinblick auf unsere Zwecke beurteilt, sondern die Zwecke selbst. Eine Intelligenz, die sich als einem Maß unterworfen vorstellt. Vernünftig nennen wir ein Handeln, das seine Zwecke als einer obersten Instanz, als einem Zweck der Zwecke verantwortlich erachtet. Dies genetisch herzuleiten aus dem idealen Ursprung der Vernunft selbst, jener Tathandlung, in der sich das Ich als frei setzt, ist wiederum Sache der Transzendentalphilosophie. Die Fiktion eines obersten Zwecks – verum, bonum, pulchrum – ist eine ästhetische Idee. Sie ist nicht bedingt, sondern durch Freiheit möglich. Und recht besehen, ist am äußersten Ende der Vernunft nur sie noch durch Freiheit möglich.

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Das sind die beiden Pole, zwischen denen "mein System" verläuft.*

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*) Wie es verläuft, sehen Sie, wenn Sie meinen Links folgen. 


27. Juni 2014

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