Sonntag, 5. Juni 2016

Philologen und Systematiker II.


sigrid rossmann, pixelio.de

Der Alltag der akademischen Philosophie wird geprägt von den Philologen. Sie finden heraus, was Meister X wirklich gelehrt hat, an welcher Stelle und unter welchen Umständen; welche ideellen Bezügen zwischen den Lehren, welche reellen Beziehungen zwischen den Lehrern nachweislich sind; und sie fördern lange verschollene Schätze zu Tage. 

Von Mikrologien und Flohknackerei ist herablassend – und durchaus ungerechtfertigt – die Rede. Denn die Systematiker – die, die aus fremden und eigenen Gedanken neue Gebäude errichten – brauchen das Material, das ihnen die Philologen zubereiten, als den Stoff, aus dem sie selber bauen. Und als die Messlatte, an der sie sich prüfen können. 

In gewisser Hinsicht handelt es sich um dasselbe Verhältnis wie zwischen Experimenteller und Theoretischer Physik: Ohne die Empiriker hätten die Theoretiker keinen Stoff zum Theoretisieren. Aber ohne die Theoretiker wüssten die Empiriker nicht, was ihre Experimente eigentlich beweisen – und nicht einmal, welche Experimente sie überhaupt veranstalten sollen. Wer von beiden ist wichtiger?

Wer war zuerst da – das Ei oder die Henne? 

Wahr bleibt immer nur: Für das eine braucht man mehr Fleiß, für das andere mehr Einbildungkraft. (Für das eine mehr Scharfsinn, für das andre mehr Humor.)

Juni 2, 2009 



Nachtrag. Dass landläufig gerade die konventionellsten, nämlich 'analytischen' Philosophierer  sich eines Tages als Systematiker ausgeben würde, habe ich damals nicht geahnt. Heute muss ich es für eine absichtliche Nebelkerze halten. Sie häufen Partikel an, System ist ihnen suspekt wie dem Teufel das Weihwasser. 




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