Mittwoch, 3. August 2016

Die Zweige des Wissens.


plumbe, pixelio.de

Die Welt ist kein Mosaik, das aus so und soviel Wahrheitsatomen zusammengesetzt ist, die man, jedes für sich, herausgreifen, begutachten und in Schubladen verteilen kann. Sondern was der Einfachheit halber 'die Welt'* genannt wird, ist ein ununterbrochener Fluß von Geschehnissen in einem komplexen Feld von wechselseitigen Bedingungsverhältnissen. Dabei erweist sich das, was prima facie als reale Bedingung erschien, der kritischen Reflexion als eine Projektion dessen, was vorher ("a priori") schon eine (logische) 'Hinsicht', eine Ab-Sicht des Betrachters gewesen war: Nur in gewissen Hinsichten, und daher nur in bestimmten realen Bedingungsverhält- nissen ('Gesetzen') 'zeigen sich' gewisse Geschehnisse; doch nicht in allen: Sie mögen mehreren Bedingungsebe- nen angehören, aber allen nicht.

So gibt es eine Bedingungsebene namens Chemie, eine namens Physik, namens Ethologie, namens Mathema- tik… Und alle stehen untereinander "irgendwie" selber wieder in einem Bedingungsverhältnis... Eine pazifische Koralle etwa "kommt vor" in Biologie, Chemie, Physik, Ethologie, sogar in Mathematik, wenn man will. Aber in Musik kommt sie nicht vor, und in Nationalökonomie nur mit Hilfe von Sophismen. Allerdings sind Biologie, Chemie, Physik nicht die "Etagen", in denen die tatsächliche Existenz der Koralle tatsächlich "stattfindet", sondern sie sind die Blickwinkel, unter denen ein abstrahierend-reflektierender Verstand die Koralle anschauen mag – oder eben nicht.

Das gilt für alle Wissenszweige ebenso wie für Kants Kategorientafel.


Also, ein Geschehen "zeigt sich" in dem einen Bedingungsverhältnis (unter der einen Kategorie) so, in dem andern anders; und in einem dritten gar nicht.

Wo die Menschen ihre apriorischen 'Hinsichten' herhaben – ob ihrerseits ex sponte 'gesetzt' oder aus "sinnlichen Eindrücken" empirisch angesammelt –, diese Frage "erscheint" ihrerseits in logischer Hinsicht (philosophisch) gar nicht, sondern nur empirisch-psychologisch – als Streit zwischen Assoziations- und Gestaltpsychologie (der freilich selber logisch zu entscheiden ist).

Ausschlaggebend ist nur, dass 'es' diese Hinsichten 'gibt', und dass ihre logisch-regelmäßige Handhabung die Gewähr für die Vernünftigkeit unseres Denkens ist. Dank ihrer 'gibt es' vernünftiges Denken: Sie "konstituieren" es. Aber da es nun einmal 'ist', reicht ihm die Faktizität der  Kategorien, die es konstituieren, nicht aus. Es will die Gründe sehen. Will sehen, dass sie nicht (historisch) zufällig sind (und also auch anders sein könnten), sondern (genetisch) notwendig. Wenn es unter den faktisch gegebenen Kategorien nicht einen genetischen, einen Beding- ungszusammenhang auffinden kann – einen 'letzten', d. h. ersten Grund -, dann müsste es sich selber als unbe- gründet, und damit als ungültig erkennen.

Die Suche nach einem letzten Grund heißt Wissenschaftslehre.

Das heißt, 'eigentlich' ist sie zirkulär: Sie setzt die Auffindbarkeit des Grundes schon voraus. Denn 'gäbe es' einen solchen Grund nicht, dann könnte sie ihn nicht nur nicht finden; sondern sie könnte nicht einmal finden, dass sie ihn nicht finden kann, und so verlöre die Suche ihr Wonach.

Wer sich also auf die Suche macht, der muß sinnvollerweise voraussetzen, dass es hier etwas zu finden gibt. Seine Suche beginnt dann folgendermaßen: Da das Wissen einen Grund haben muß (weil ich anders gar nicht suchen könnte), muß er… da oder dort zu finden sein.

Logisch korrekt muss die Aufgabe also so formuliert werden: Wenn unser Wissen einen Grund hat, dann muss er sich 'in' unserm Wissen als dessen immanente Prämisse auffinden lassen. Daß aber unser Wissen einen Grund hat, das soll so sein, weil jedes Wort sonst hinfällig wäre.

21. 3. 1993 

*) 'Die Welt' ist lediglich ein Bild, das unsere Vorstellung entwirft - als der Horizont aller Dinge, die in ihr vorkommen. Und wie 'kommen sie vor'? Wenn ich es genau besehe, als "ein ununterbrochener Fluß von Geschehnissen in einem komplexen Feld von wechselseitigen Bedingungsverhältnissen". Anm. 3. 8. 16


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