Montag, 9. Januar 2017

Der Realist ist nicht naiv.


Quentin Massys, Der Geldverleiher

Naiven Realismus nannten die Neukantianer vor anderthalb Jahrhunderten das, was Kant selbst die dogmatische Sicht der Welt genannt hatte, weil sie glaubt; nämlich glaubt, dass das, was in ihrem Bewusstsein vorkommt, das- selbe ist wie das, was außerhalb ihres Bewusstseins da ist. Die Frage, wie es dort hineingekommen ist, stellt sie sich naiverweise nicht: Im Bewusstsein spiegelt sich die Welt. 'Abbildtheorie' hat man das später genannt, denn es war das Glaubensbekenntnis der "wissenschaftlichen Weltanschauung" alias DIAlektischer MATerialismus, da war Respekt geboten, denn Sibirien lag näher, als es auf der Landkarte schien.

Die Hirnphysiologie bringt uns aber nicht weiter. Zwar kann der Forscher uns zeigen, dass die Neurone in unserm Hirn nicht einfach die Reize, die ihnen die Sinneszellen übermitteln, einsammeln und zu Einheiten zusammensetzen (wie und warum?), sondern umgekehrt aktiv Fragen an sie stellen  und dadurch vorab immer schon seine Auswahl getroffen haben, die eine Hypothese darstellt, mit der die Daten verglichen werden. Auch hier findet also nicht einfach Widerspiegelung statt.

Aber das beweist noch nicht viel. Unser Bewusstsein erschöpft sich nämlich nicht darin, dass wir 'Sachen wissen'. Das tun ja offenbar die Tiere auch. Doch anders als sie wissen wir, dass wir Sachen wissen - sonst könnten wir uns ja nicht fragen, wie es dazu kommt. Wir reflektieren, und in wachem Zustand nehmen wir nichts wahr, worauf wir nicht reflektierten: Etwas 'merken' heißt darauf reflektieren.

Für die Reflexion hat die Hirnforschung nicht nur keine Erklärung. Sie kann mit all ihren Bildgebenden Ver- fahren nicht einmal sagen, wann, wo oder wie sie geschieht.

Das ist allerdings auch nicht ihres Amtes, denn das könnte sie nicht ohne die Voraussetzung eines 'immer schon' wollenden Ichs, und das gehört nicht in die Physiologie, sondern in die Philosophie.

 aus einem Kommentar 


Nachzutragen wäre noch dies: Naiv ist an diesem Realismus gar nichts. Das französische Wort naïf stammt ab von dem lateinischen nativus, und das bedeutete soviel wie 'neugeboren'. Naif wäre also einer, der sich dem Augenschein hingibt wie der, der eben das Licht der Welt erblickt. Schiller hat dagegen bemerkt, naiv sei nicht das Kind, sondern der, der kindlich ist, obwohl man es nicht mehr von ihm erwarten sollte; ein Erwachsener, der nicht zur Vernunft gekommen ist und seinen Vorteil abwägt, sondern unschuldig geblieben wie ein Neu- geborenes.

Nichts von beidem hat der dogmatische Realismus. Unschuldig ist er gar nicht, sondern schlau und selbstge- fällig. Und kindlich wäre es, die Dinge, die mir begegnen, zuallererst einmal für meinesgleichen zu halten, bis ich merke, dass sie anders sind. Naiv ist nicht der Realismus des geschäftssinnigen Bürgers, sondern der Ani- mismus des Wilden. Was wir als die Phantasie des Kindes wehmütig bestaunen, ist seine Bereitschaft, alles, was vorkommt, irgenwie für belebt zu halten. Zu unterscheiden zwischen dem, was es sieht, und dem, der es sieht; zwischen dem Ding und dem Gedanken; zwischen Subjekt und Objekt käme ihm nicht in den Sinn. Nicht das Kind denkt realistisch, sondern Ebenezer Scrooge.

(Und selbstverständlich auch der idealistische Philosoph, sobald er vom Katheder steigt, sagt Johann Fichte.)



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