Mittwoch, 30. August 2017

Der Vernunftdogmatiker, I: Woher und wozu.



Dass das, was ist, ist, haben wir nicht selbstgemacht. Es ist schlechterdings da, wieso und wozu kann uns vor der Hand gleichgültig sein. Denn das, was es ist, haben wir allerdings selber bestimmt und bestimmen es un- entwegt neu: was es für uns sein soll, was man daraus machen kann, als was es uns gilt. Das ist ein praktische Frage.

Einem isolierten Individuum hat sie sich in der Geschichte nie gestellt. Defoes Robinson hatte den Zweckbegriff aus der Zivilisation mitgebracht, und wenn er gelegentlich einem Ding, das er noch nicht kannte, einen neuen Zweck anerfunden hat, so hatte er die Idee, Dinge an ihren Zwecken zu erkennen, doch nicht selber erfinden müssen.


Die Menschen und ihre Vorläufer in der Gattungsgeschichte konnten nicht leben, ohne zusammenzuleben. Dinge fanden sie nicht als Einzelne vor, sondern gemeinsam. Die Frage nach ihren Zwecken stellte sich nicht jedem allein, sondern allen zusammen. Oder auch: Als geltend bewährt haben sich diejenigen Zwecke, die sie teilten, die andern gingen wieder verloren. So entstanden Begriffe von den Dingen.


Richtig ist wohl, dass die Zwecke, die unsere Vorläufer erfanden, sich hauptsächlich aufs nackte Überleben bezogen haben dürften - auf ihren Erhaltungswert für die Individuen in ihren Lebensgesgemeinschaften. Materielle Zwecke teilen sich regelmäßiger mit, ideelle Zwecke bleiben länger individuell. Aber das ist ein gradueller Unterschied, der mit der Höhe der Kultur abnimmt; im Prinzip ist ein Zweck ein Zweck.


Historisch ist es zwar eine bedeutsame Frage, wie immaterielle und daher fernerliegende Zwecke für Homo sapiens eine so viel mächtigere Kraft gewinnen konnten als in allen andern Gattungen. Aber dass es so ist, ist ein Faktum, das aller Anthropologie richtungweisend zugrundeliegt. Denn umstritten sind die Zwecke nur, wenn und weil sie geteilt werden sollen. 

Es ist diese historische Gegebenheit, die wir seit gut drei Jahrhunderten als Vernunft bezeichnen. Sie aktu- alisiert sich alltäglich im Streit.


 





Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Dienstag, 29. August 2017

Freiheit liegt außerhalb des Bewusstseins.


Einer Freiheit außer mir kann ich mir überhaupt gar nicht unmittelbar bewusst sein. Nicht einmal einer Freiheit / in mir oder meiner eigenen Freiheit kann ich mir bewusst werden, denn die Freiheit an sich ist der letzte Er- klärungsgrund alles Bewusstseins und kann daher gar nicht in das Gebiet des Bewusstseins gehören. 

Aber - ich kann mir bewusst werden, dass ich mir bei einer gewissen Bestimmung meines empirischen Ich durch meinen Willen einer andern Ursache nicht bewusst bin, als dieses Willens selbst, und dieses Nichtbe- wusstsein der Ursache könnte man wohl auch ein Bewusstsein der Freiheit nennen, wenn man sich nur vorher gehörig erklärt hat, und wir wollen es hier so nennen. In diesem Sinne kann man sich selbst einer eigenen Hand- lung durch Freiheit bewusst werden.
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 J. G. Fichte, in Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 14f.



Nota I. - So sagt schon Spinoza: Die Illusion der Willensfreiheit beruhe nur darauf, dass man die wahren Bestim- mungsgründe seines eignen Willens nicht kenne. - Also das Nichtwissen von einem äußeren Bestimmungs- grund meines Willens besagt philosophisch gar nichts über denselben. Zugleich ist es aber eine der mächtigsten Tatsachen des Bewusstseins, von der ich kaum abstrahieren kann.
JE





Montag, 28. August 2017

Sinnliche und geistige Gefühle; leiden und handeln.



Nämlich in allen Menschen entstehen Vorstellungen nur durch Gefühle und durch die schaffende Einbildungkraft. Unter diesen Gefühlen aber ist ein großer Unterschied. - Einige beziehen sich nur auf das animalische sinnliche Leben des Menschen usw., andere auf sein höheres geistiges Leben, auf seine Vorstellungen pp, die er freilich nur galubt, aus Gründen, die sich sogleich zeigen werden.

Zur Erhebnung aller [Gefühle - sinnlicher und geistiger] z. B. gehört Selbsttäigkeit. - Kein geistiges Wesen ist in irgend einer seiner Verrichtungen bloß leidend, oder es ist kein geistiges Wesen. Alle Hypothesen und alle Philosophen, die so etwas voraussetzen, verstehen sich selbst nicht, oder sie stehen in dem größten Widerspruche mit sich selbst: Sie erweisen und räsonnieren, dass sie garnicht räsonnieren können. - 

Ein Wesen kann nicht geistig und körperlich zugleich sein; was einmal und in einer einzigen Handlung sich bloß leidend verhält, verhält sich durch gäng-/gig bloß leidend. Aber bei den ersten [=den sinnlichen Gefühlen] bekommt die Selbsttätigkeit eine Veranlassung unmittelbar [sic] von außen, sie steht unter der Bedingung von etwas, das dem Ich entgegengesetzt wird (denn es versteht sich, dass ich nicht von etwas Äußern und Innern an sich und unabhängig von unsrer Vorstellung reden kann; wie könnte ich davon reden, ohne es vorzustellen?)

Zur Erhebung der letzten [der geistigen] Gefühle bekommt sie den Trieb gar nicht mittelbar von außen, sondern sehr unmittelbar, und die Bestimmung der Einbildungskraft ist ganz durch absolute Freiheit von innen. - Es ist nicht ein Gefühl von irgend einem Anstoße von außen, sondern von unsrer eignen Handlungsweise auf diesen Anstoß. - Von unserm Handeln, unserm eignen Sein unter der Bedingung ... überhaupt gar nicht auf unser Leiden, sondeern auf unser Handeln beziehen sie sich.

Kein Mensch ist an sich ohne Handeln, kein Mensch könnte es sein. - Der Mensch ist schlechthin handelndes Wesen, darinnen liegt der Grund seines ganzen Seins - und alles Vorstellen gründet sich auf Handeln. In Jedem also liegen die Gefühle des Handelns da. 

Aber es ist zugleich wahr, dass unter den Menschen, wie sie gegenwärtg sind, nur die wenigstgen sich zum Bewusstsein dieses Ihres Handelns, zum Handeln auf dieses Handeln selbst erheben. Auf Handeln selber aber kann nur durch absolute Freiheit gehandelt werden. Einige Menschen aber sind nicht frei.

Es sind alle Bedingungen der Freiheit da: die Gefühle sind da, die Kraft ist da, aber nicht die Anwendung, und so leben wir wie ganz verschiedne Menschenklassen; nicht der Anlage nach, aber der Wirklichkeit nach.
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 J. G. Fichte, "Über den Unterschied des Geistes und des Buchstabens in der Philosophie; Eerster Entwurf" in Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 130f. 



Nota I. -
'Der Mensch ist schlechthin handelndes Wesen': Zuerst einmal handelt es sich bei den Prolegomena samt und sonders um anthropologische Voraussetzungen des Gesamtsystems der Wissenschaftlehre; sie werden an dieser Stelle postuliert, und wenn alles gut geht, werden sie im Verlauf der Arbeit am System rückwirkend 'bestätigt'. Doch nicht in jedem Punkt: Die Unterscheidung zwischen sinnlichen und 'geistigen' Gefühlen wird im Verlauf verwendet - das erweist ihre Brauchbarkeit; aber begründet wird sie dadurch eben nicht.

Immerhin wird hier in den Vorbemerkungen aber deutlich, woher sie stammt. Der Obersatz lautet, Gefühle kämen nur durch Handeln zustande. Es gibt reales und geistiges Handeln, "folglich" erzeuge das geistige Handeln ebenso Gefühle wie des reale. Folglich ist nichts daran. Mein wirkliches Handeln = Handeln in der Wirklichkeit ist stets vermittelt durch den artikulierten Teil meines Leibes. Das Gefühl meldet sich 'folglich' im Leib, wer kennte das nicht! - Dass er das 'Gefühl', beim Denken dieser oder jener Sache "nicht anders zu können", als so und so zu verfahren; wenn er also das Erlebnis des "Denkzwangs" eben falls ein Gefühl nennt, ist eine Analogie und kein Begriff.

Nota II. - Da steht nicht: Alle Gefühle gehen auf Handlungen zurück, und daraus entstehen Vorstellungen. So hat er's vielleicht gemeint, aber geschrieben hat er doch nur: Vorstellungen entstehen aus Gefühlen, die auf Handlungen zurückgehen. Wenn mich eine Wespe sticht, fühle ich das, aber wenn ich Glück habe, kann ich es ignorieren.
JE




Samstag, 26. August 2017

Begriff und Vorstellung - digital und analog.


 
Die Wissenschaftslehre knüpft nicht, wie alle andern philosophischen Systeme, vorab definierte Begriffe aneinander, sondern entwickelt ihren Gang aus lebendigem Vorstellen, wobei die begrifflichen Feststellungen gewissermaßen nebenher anfallen. Das ist der elementare Unterschied zu allem vorangegangenen und allem folgenden Philosophieren. Fichte kommt immer wieder auf ihn zu sprechen.

Aber nur beiläufig wie auf ein bloßes Faktum. Die Tragweite, so mein Eindruck, wurde ihm nicht recht bewusst.

Auch an diesem systematisch entscheidenden Punkt sind die Prolegomena Vom Wesen der Gelehrten aufschluss- reich. Der zweite Hauptteil Über Geist und Buchstab hat, wiederum ohne dass es ausgesprochen wird, keinen anderen Gegenstand. Die dort angegriffenen Buchstäbler sind niemand anderes als die rationalistischen Metaphy- siker - man denkt an Wolff und Baumgarten -, die aus Begriffen ganze Weltgebäude auftürmen, ohne zu erklä- ren, woher sie ihre Begriffe haben und mit welchem Recht sie von ihnen Gebrauch machen.

Doch Fichte fügt hinzu: Der Wissenschaftslehre selbst ginge es nicht besser und sie verfiele wie das Wolff-Baumgarten'sche System der transzendentalen Kritik, wenn ihre lebendige Vorstellungstätigkeit zu toten Begriffen sistiert und als ein lernbares Pensum aufgefasst würde. 

Dass Fichte diesen Unterschied nur nebenher ausgesprochen und nicht als kategorisch festgestellt hat, steht bis heute im akademischen Raum einem angemessenen Verständnis der Wissenschaftslehre entgegen.


Der Begriff ist der Urtyp des digit. Die diskursive Rede ist die digitale Darstellung par excellence. Das lebendige Vorstellen lässt sich dagegen nur analog darstellen. Fichte hatte nicht die Wahl: Auch die Wissenschaftslehre konnte er nur diskursiv vortragen. Dass digital vorgetragen wird, was analog angeschaut werden soll, muss auf Schritt und Tritt Missverständnisse hervorrufen.


Freitag, 25. August 2017

Das Vorstellen vorstellen ist das Wesen der Transzendentalphilosophie.



Geist überhaupt ist das Vermögen der produktiven Einbildungkraft, Gefühle zu Vorstellungen zu erheben. In diesem Sinne ist allen Wesen, die Vorstellungen haben, Geist zuzuschreiben. Geist in der besondern Bedeu- tung, in welcher man allerdings berechtigt zu sein scheint, manchen Menschen denselben gänzlich abzuspre- chen, ist das Vermögen, die tiefer liegenden und unsre auf die Sinnenwelt sich beziehenden Gefühle begrün- denden, auf eine übersinnliche Ordnung der Dinge sich beziehenden Gefühle zum Bewusstsein zu erheben; oder kürzer, das Vermögen, Ideale und Ideen vorzustellen. 

Ich habe gezeigt, wie diese Vorstellungen des rein Geistigen zum Behuf der Mitteilung unter geistigen Wesen in Körper gekleidet und darin, soweit dies möglich ist, ausgedrückt werden; wie der Geistlose an diesem toten Körper hängen bleibt, ohne sich dadurch zum Anschauen des in ihm ausgedrückten Idealen zu erheben; und wie er dann, wohl auch zur Nachahmung, Körper bildet, die aber keinen Geist haben. ... /

Der Stoff der gesamten Philosophie ist selbst der menschliche Geist in allen seinen Verrichtungen, Geschäften und Handlungsweisen, und erst nach vollständiger Erschöpfung diese Handungsweisen ist die Philosophie Wissenschaftslehre.
 
Der menschliche Geist ist Tätigkeit und nichts als Tätigkeit. Ihn kennenlernen heißt, seine Handlungsweisen kennen lernen, denn weiter ist an ihm nichts zu kennen. ...

Wir sind uns unsers Handelns nur mittelbar, nur vermittelst des Objekt des Handelns, nur vermittelst des Ge- genstandes, auf den unsre Handlung geht, bewusst. Des Handelns als solchen sind wir uns nie bewusst und können wegen der Gesetze des menschlichen Denkens uns desselben nicht bewusst werden. Nun wollen wir uns [aber] desselben bewusst werden. Das ist nur unter der Bedingung möglich, dass auf dieses Handeln wieder gehandelt werde; dass es selbst Objekt einer Handlung / werde; und eine solche Handlung nennt man Refle- xion. 

Ich stelle mir eine Körperwelt vor, und insofern bin ich mir lediglich der Körperwelt bewusst. Soll ich meiner Tätigkeit in jenem Vorstellen mir bewusst werden, so ist es nur dadurch möglich, dass ich mein Vorstellen der Körperwelt vorstelle. Hier stehe ich auf einem höhern Punkte; ich reflektiere meine in der eignen Vorstellung vorhandne Tätigkeit, und eine solche Reflexion ist möglich.

Hierin nun, welches ich bloß im Vorbeigehen vor [für] die, denen es nötig sein könnte, erinnere, besteht das Wesen der transzendentalen Philosophie, dass nicht geradzu vorgestellt, sondern dass das Vorstellen vorgestellt werde; dass nicht, nach der Art des gemeinen Menschenverstandes, unmittelbar über das Vorgestellte, sondern über das Vorstellende, und erst vermittelst dieses über das Vorgestellte reflektiert werde. 
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 J. G. Fichte, "Über den Unterschied des Geistes und des Buchstabens in der Philosophie" in Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 66/69  



Nota. -  An dieser Stelle gibt es manches anzumerken. Zunächst: Geist ist nichts als Tätigkeit. 'Nichts als' - also auch nicht etwas der Tätigkeit als ihre Substanz zu Grunde Liegendes.

Und dann: Mich selbst kann ich nur vorstellen, indem ich mein noumenales 'reines' Ich verunreinige und als empirische Person in die Körperwelt versetze. Erst in der Reflexion, im Vorstellen des Vorstellens, kann ich mein 'reines' Ich "wiederherstellen". Es ist freilich ein wieder-Wiederherstellen, denn es 'ist' ja überhaupt nur als Noumenon, nur für den Philosophen scheint es das Erste zu sein. Allerdings: nach 'dem Ersten' fragt auch nur der Philosoph. Das wirkliche Individuum kommt ohne zu fragen auf die Welt.

Nebenbei sei darauf aufmerksam gemacht, dass F. die Sprache - Wörter und Begriffe - als eine "Verkörperli- chung des Geistigen" - der Vorstellungen - zum Zweck der Mitteilung bestimmt.


Und schließlich: Während meiner online-Bearbeitung der WL nova methodo habe ich mich über weite Strecken damit herumgeschlagen, dass Fichte zwar das real-Geistige, das wirkliche Vorstellen ausschließlich auf das Gefühl zurückführt, aber auch den Denkzwang, die Denkgesetze auf ein - offenbar geistiges! - Gefühl gründet und ihnen ipso facto wie den Erfahrungsbegriffen anschauliche Realität zuschreibt. Bei Fichte muss doch alles hergleitet werden aus Voraussetzungen, die er ihrerseits aus seinem Eingangspostulat hergeleitet hat; doch an dieser Stelle fehlt die Herleitung! Und hier in den ersten Vorträgen seiner Lehrtätigkeit finden wir eine Art Begründung, die allerdings eine problematische Tatsachenbehauptung ist: "Wer sieht nicht, dass die Gefühle...?" 

Seien wir ehrlich: Es ist ein Trick. Was er herleiten müsste, aber nicht kann, schiebt er stattdessen nachträglich unter. Das 'Gefühl' fürs Geistige wird nicht aus den sinnlichen Gefühlen destilliert und raffiniert, sondern ihnen zu Grunde gelegt. Er hat das niemals weiter ausgeführt, in den Rückerinnerungen... spricht er - mitten im Atheismusstreit - von einem "intellektuellen Gefühl", das ihm die Gewissheit, dass es Wahrheit geben muss, verbürgen soll. 

Das Problem ist dies: Wenn es ein Gefühl sein soll, muss es in etwas Empirischem gründen. Wenn es etwas Intellektuelles sein soll, muss es ein Geistiges zum Gegenstand haben. Da der Gegenstand geistiger Art sein soll, muss eine empirisch-geistige Voraussetzung behaupten.

Für eine rationelle Lösung des Problems waren die empirischen Humanissenschaften längst noch nicht ent- wickelt. Die Verbindung von Sinnlichem und Geistigem ist das Ästhetische, das wusste Fichte. Er hätte aber den Begriff des Ästhetischen weiter fassen müssen, als nicht nur Schiller, sondern er selbst es sich vorstellen konnte.
JE


 

Donnerstag, 24. August 2017

Die unvermeidliche Täuschung und der Geist der Philosophie.


...es ist gar nicht wahr, dass die Täuschung, die Dinge in Zeit und im Raum für Dinge an sich zu halten, unver- meidlich sei. Es ist allerdings notwendig, so auf sie zu handeln, als ob sie es wären; denn / unsere Handlung selbst geht durch das Medium der Vorstellung hindurch; man kann nicht handeln, ohne das Bild seiner Hand- lung sich vorzuhalten. Aber die Handlung und das Behandelte müssen notwendig aus demselben Reflexions- punkte angesehen werden. 

Denn die technisch praktische Täuschung ist unvermeidlich. Kein Experiment, kein Kunstprodukt ist möglich, ohne die Formen der Sinnlichkeit dem Gegenstande zuzuschreiben, weil man sie in der Handlung sich selbst zuschreiben muss - aus einem Grunde, den ich zu seiner Zeit und an seinem Orte bestimmt darlegen werde. Es ist notwendig, so auf sie zu handeln, aber es ist gar nicht notwendig, sie so zu denken, wenn man sie bloß denkt, um sie zu denken.  

Diese Täuschung im Denken gründet sich auf die bloße Gewohnheit, auf dem niedrigsten Punkte der Reflexion zu bleiben. Diese Gewohnheit kann durch eine neue, durch fortgesetztes gründliches Nachdenken und durch stete Aufmerksamkeit auf sich selbst zu erwerbende Gewohnheit aufgehoben werden. Das Hnadeln zieht uns stets auf jene niedrige Stufe herab; aber bei der geringsten Reflexion auf sich selber kann man in jedem Augenblicke sich wieder ganz klar bewusst werdenb, dass man nur in der Welt der Erscheinungen lebe; durch die geringste Reflexion auf sich selber kann man sich wieder in das Gebiet der reinen Vernunft und der reinen Wahrheit erheben und wenigstens seinem Geiste nach in einer höheren Welt wandeln. 
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 J. G. Fichte, "Über den Unterschied des Geistes und des  Buchstabens in der Philosophie" in Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 73f.;


Nota. - Im Handeln und für das Handeln ist die realistische Auffassung der Welt unumgänglich, und da wir den größten Teil der Zeit, den wir auf der Welt sind, mit handeln beschäftigt sind, ist sie gewissermaßen die richtige: Das wirkliche Handeln ist nur auf dem niedrigsten Reflexionspunkt möglich. Wenn ich momentan neben das Leben trete und mich und mein Handeln bedenke, nehme ich den Gesichtspunkt des Philosophen an, und ich werde ihn nicht gleich wieder vergessen, sobald ich erneut ans Handeln gehe. Ich begebe mich wissentlich auf die realistische Auffassung herab und handle so als ob.
JE


Mittwoch, 23. August 2017

Geist und Buchstaben.



Die neue Reihe der Dinge, in die wir eingeführt werden sollen, ist die der Handlungen des menschlichen Geistes selbst, nicht mehr die der Objekte dieser Handlungen. Diese Handlungen sollen vorgestellt werden; keine Vorstellung ist mögllich ohne ein Bild. Es müssen demnach Bilder dieser Handlungen vorhanden sein. Alle Bilder aber werden durch die absolute Spontaneität der Einbildungskraft hervorgebracht, mithin auch dieses. 

Ein Teil dieser Bilder - freilich bei weitem noch nicht [die] der höchsten Handlungen des menschlichen Geistes - sind aud den Kantischen Schriften unter dem Namen der Schemata, und das Verfahren der Einbildungskraft mit denselben unter dem Namen des Schematismus bekannt. Die ganze Transzendentalphilosophie soll und kann nichts anderes sein, als ein getroffenes Schema des menschlichen Geistes überhaupt. 

Wer sieht nicht, dass dies der Einbildungskraft ein ganz neues und ungeahntes Geschäft gibt; ein Geschäft, das ihr nur um weniges leichter sein wird, als ihr Entwerfen der Bilder überhaupt beim Anfange des irdischen Lebens war?

Wer sieht nicht, daß die Gefühle für diese Bilder um eine Region tiefer im menschlichen Gemüte liegen, und dass das Vermögen, dieselben zu entwerfen, ganz eigentlich dasjenige sei, was wir als Geist beschrieben haben? Wer sieht demnach nicht, dass die Möglichkeit des Stoffes aller Philosophie Geist voraussetze, und dass ohne Geist alles Philosophieren völlig leer und ein Philosophieren über das absolute Nichts ist?

Dass ich darüber ein erschöpfendes Beispiel anführe. - Es ist wohl keinem unter Ihnen völlig unberkannt, dass an einer streng wissenschaftlichen Transzendentalphilosophie unter dem Namen einer Wissenschaftslehre ge- arbeitet und das dieselbe auf dasjenige aufgeführt [aufgebaut] wird, was als reines Ich übrigbleibt, nachdem man von allem abstrahiert hat, wovon nur abstrahiert werden kann. Eine solche Wissenschaft kann keine andere Regel geben als die: Man abstrahiere von / allem, wovon man abstrahieren kann, bis etwas übrig bleibe, wovon völlig unmöglich ist zu abstrahieren: Die Übrigbleibende ist das reine Ich, welches zugleich als reines Ich als Regulativ für das Denkvermögen vollkommen bestimmt ist. Es ist dasjenige, von dem man schlechterdings nicht abstrahieren kann, weil es das Abstrahierende selbst ist, oder, was gerade das[selbe] heißt, dasjenige, was sich selbst schlechthin setzt. 

Diesen Satz kann man nun als bloßes Regulativ für das Denkvermögen fassen; es muss ihm [nur] im Laufe der Untersuchung nicht widersprochen werden, und so wird man denn aus ihm gar leicht die Unzulänglichkeit aller Systeme dartun können, in denen irgend etwas, so gering dasselbe auch sei, angenommen wird, gegen welches das Ich bloß sich leidend verhalten soll; weil dem Ich, so gewiss es ein Ich sein soll, gar nichts zukommen kann, das es sich nicht selbst zuschriebe und gegen welches es sich demnach nicht auch zugleich tätig verhalte.

Wenn man aber auch gleich diesen ganz richtigen Gebrauch von jenem Satze macht, so bleibt es noch immer gar wohl möglich, dss man bloß den Buchstaben desselben gelernt, nicht aber seinen Geist ufgefasst habe. Man macht Gebrauch von der Formel, in der jener Satz ausgedrückt ist, weil man sie etwa auf Treu und Glauben angenommen hat, oder weil man ihre Brauchbarkeit zur bestimmten Erklärung alles dessen, was die Philoso- phie erklären soll, bemerkt: Aber man hat auch nichts als eine Formel, wenn man nicht die Anschauung dessen hat, was durch sie ausgedrückt ist. Gesetzt auch man trüge ein System vor, das für einen Andern Geist und Leben bekommen möchte, so hat es für uns doch keinen, sondern ist für uns nur bloße Formularphilosophie.
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J. G. Fichte, "Über den Unterschied des Geistes und des  Buchstabens in der Philosophie" in Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 72f.;


Nota. -  Zuerst also eine Berichtigung: Von den Vorträgen Über Geist und Buchstaben... sind, anders, als ich in meinem Kommentar zum vorgestrigen Eintrag schrieb, die ersten drei sehr wohl als Ms. enthalten; erst die folgenden
, die Fichte für Schillers Horen umgearbeitet hat, sind verloren.


Der Wissenschaftslehre selbst fügen diese Prolegomena sachlich nichts hinzu: Sie entwickeln keine Gedanken, sondern berichten sie, und das gilt bei Fichte nicht als Philosophie. Aber sie erläutern, und dies in entscheidenden Punkten, wie dieses und jenes, das in den folgenden Darstellungen der Wissenschaftslehre entwickelt werden wird, von Fichte gemeint ist. Es wird mir klar, dass ich mir einige Wirrungen, die mir bei meinem Fichte-Studium untergekommen sind, hätte ersparen können, wenn ich mich um diesen Auftakt zu seiner Lehrtätigkeit früher bekümmert hätte.
JE


 

Dienstag, 22. August 2017

Vom Wege abgekommen.

sigrid rossmann  / pixelio.de

Nicht nur meine ich wirklich, dass Fichte konsequenterweise die notwendige Idee des Wahren und Absoluten als eine ästhetische Fiktion hätte erkennen sollen. Ich meine sogar, dass er sich bereits auf diesen Weg begeben hatte und dass es der Atheismusstreit war, der ihn stattdessen auf den Abweg der spekulativen Metaphysik verführt hat.

Jacobi hatte Recht, ihn an seine Herkunft aus dem Spinozismus zu erinnern: Der Gedanke an die Vernunft als deus sive natura mag in seinem Hinterkopf ebenso gegeistert haben wie in Kants 'Ding-an-sich' die Leibniz'schen Monaden. Jener hatte lange geschwankt, ob er das Ding an sich mehr als ein Reale oder doch mehr als bloßes Noumenon auffassen sollte, und erst im Opus postumum scheint er sich ganz vom Realismus zu lösen. Bei Fichte dagegen standen praktischer Aktivismus und logischer Aktualismus ganz im Vordergrund, aller Gedanke an ein Sein-an-Sich war ihm ein Gräuel. Aber das war vor dem 18. Brumaire.* Das war vor dem Ende der Revolution und vor dem Ende der Jenaer Romantik. 

Und vor dem Atheismusstreit.

Im Streit um den Aufsatz Über Geist und Buschstab in der Philosophie, in dem er das Ästhetische als eine Art Vorraum der Vernunft darstellte und den Schiller nicht in seine Zeitschrift Horen aufgenommen hatte, schrieb Fichte, wie weit er den Begriff des Ästhetischen fasse, könne jener sich nicht einmal vorstellen.** "Nur der Sinn für das Ästhetische ist es, der in unserem Innern uns den ersten festen Standpunkt gibt", hatte es dort geheißen.*** Noch in der Sittenlehre° schreibt er: "Ästhetischer Sinn ist nicht Tugend: denn das Sittengesetz fordert Selbständigkeit nach Begriffen, der erstere aber kommt ohne alle Begriffe von selbst. Aber er ist Vorbereitung zur Tugend, er bereitet ihr den Boden, und wenn die Moralität eintritt, so findet sie die halbe Arbeit, die Befreiung aus den Banden der Sinnlichkeit, schon vollendet. Ästhetische Bildung hat sonach eine höchst wirksame Beziehung auf die Beförderung des Vernunftzwecks."

Das ist bloß eine empirische, "historische" Beschreibung, keine Transzendentalphilosophie. Aber wir wissen heute,°° dass Fichte immer wieder - bis zum Atheismussteit! - den Plan fasste, seine Gedanken zu einer systematische Ästhetik auszubauen, und wohl nur durch dringendere Geschäfte davon abgehalten wurde.

Bis zum Atheismusstreit, wohlbemerkt. In den Rückerinnerungen taucht dann der bizarre Einfall eines "intellektuellen Gefühls" auf, den er unter Jacobis Einfluss gleich wieder fallen lässt. Doch hätte er den Gedanken ausgearbeitet - ich zweifle nicht daran, dass er jenes 'intellektuelle Gefühl' als ein ästhetisches Urteil hätte identifizieren müssen.

*) am 9. 11. 1799; 
**) Fichte an Schiller, 27. 7. 1795; in: Fichte, Briefe, Bln. (O) 1986, S. 154; desgl.
in Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971, S. XXXVII
***) Über Geist und Buchstab in der Philosophie, SW VII, S. 291
°) System der Sittenlehre [1798] SW IV, S. 354f.
°°) Giorgia Cecchinato, Fichte und das Problem einer Ästhetik, Würzburg 2009




Montag, 21. August 2017

Geist und Sinnlichkeit.



Was es auch sein möge, das den letzten Grund einer Vorstellung enthält, so ist wenigstens so viel klar, dass es nicht selbst eine Vorstellung sei und dass eine Umwandlung damit vorgehen müsste, ehe es fähig ist, in unserm Bewusstsein als Stoff einer Vorstellung angetroffen zu werden. / Das Vermögen dieser Umwandlung ist die Ein- bildungskraft. – Sie ist Bildnerin. Ich rede nicht von ihr, insofern sie ehemals gehabte Vorstellungen wieder her- vorruft, verbindet, ordnet, sondern indem sie überhaupt etwas erst zu einer Vorstellung macht. – Sie ist insofern Schöpferin des eigenen Bewußtseins. Ihrer, in dieser Funk//tion , ist man sich nicht bewußt, gerade weil vor dieser Funktion vorher gar kein Bewusstsein ist. Die schaffende Einbildungskraft. Sie ist Geist. 

Resultat. Dieses Bild müssen wir selbst bilden.

Nun muss im Ich das legen, was sie bildet.

(Wo ist der eigentliche philosophische Beweis dafür, dass die Einbildungskraft etwas im Ich zum Gegenstande haben müsse? - - Sie ist tätig - aber nicht auf das Ich, sondern auf ein Nicht-Ich. - Das Ich ist schon, wenigstens virtualiter, hevorgebracht, denn sowie sie ihr Produkt vorhält, hält sie es dem Ich vor. Das Ich wird aber nur durch Unterscheidung von einem Nicht-Ich hervorgebracht. Mithin muss ein solches zu Unterscheidendes vorhanden sein: und zwar im Ich vorhanden sein. -

Wie und warum im Ich? - Es kann nur durch ein Vermögen des Ich vom Ich unterschieden werden; mithin muss es Gegenstand dieses unterscheidenden Vermögens sein - also schon in diesem Vermögen liegen. - Eine Qualität, eine prädikative, des Ich.

Die (schaffende) Einbildungskraft selbst ist Vermögen des Ich. (Könnte sie nicht das einzigerundvermögen des Ich sein? - Nein, darum nicht, weil das Produkt derselben vom Ich unterschieden wird: also auch nach ihrer Funktion noch ein Ich da ist.) Also es muss einen höhern Grund ihres Schaffens im Ich geben. - (Heißt im Grund das gleiche als: Es muss nocht etwas übrig bleiben, was Substrat des Ich ist, auf welches das Produkt der Einbil- dungskraft bezogen wird, und das ist offenbar das Fühlende, und im Gefühl liegt mithin der Urstoff des [sic], was die Einbildungskraft bildet. ___________________________________________________________________________________
J. G. Fichte, in Von den Pflichten der Gelehrten, Hamburg 1971 [Meiner], S. 126f.; desgl. in Gesamtausgabe II/3, 
S. 297f.  

 
Nota. - Geist ist toto genere Einbildungskraft. Aber das Ich ist nicht Geist (vom empirischen Individuum ganz zu schweigen). Wenn die Einbildungskraft nicht etwas vorfindet, das sie dem Ich ein/bilden kann, ist sie arbeitslos. Nicht das, was sie vorfindet, bildet die Einbildungskraft, sondern das, was sie vorgefunden hat: was es ist, das es bedeutet

Vorgefunden hat sie das krude Sinnesdatum: Gefühl. Das ist der Stoff, an dem die Einbildungskraft arbeitet. Er ist, auch ohne Einbildungskraft; er ist lediglich nicht dieses oder jenes.

*

So apodiktisch wie an dieser Stelle hat es Fichte meines Wissens nie wieder ausgesprochen. Natürlich: Denn es ist ein Ergebnis des Systems, das er doch erst noch auszuarbeiten hatte. Und wenn er es auch je fertig ausgearbeitet hätte: Eine "feste Terminologie" ist der Wissenschaftslehre fremd, weil sie nicht erlernt, sondern nur selbstgedacht werden kann. Für didaktische Zusammenfassungen dieser Art gibt es gar keine Berechtigung.

Daher kommt die hier wiedergebene Stelle auch nirgends in seinen Veröffentlichungen, aber auch - nicht in seinen mündlichen Vorträgen vor! Sie stammt vielmehr aus seinen eigenen Aufzeichnungen, die er zur Vorberei- tung seiner öffentlichen Vorträge Über Geist und Buchstaben in der Philosophie angefertigt hat, die an die Pflichten der Gelehrten anschlossen. Diese Vorträge selbst sind nicht überliefert, wohl aber eine spätere Ausarbeitung für Schillers Zeitschrift Horen, die auf ihre Art selber Geistesgeschichte gemacht hat. 

Dass er sie in dieser Form nie wiederholt hat, hat seinen guten philosophische Grund. Wer aber - wie ich - histo- risch deutlich machen will, was Fichte wirklich gemeint hat, darf sie in der Darstellung ganz nach vorn setzen.
JE

Sonntag, 20. August 2017

Bilder, Zeichen und Begriffe.

Samstag, 19. August 2017

"Sprache ist das kollektive Gedächtnis der Menschheit."

 
aus
Fritz Mauthner, 
Wesen der Sprache- Beiträge zu einer Kritik der Sprache

Sprechen, Denken, Vernunft

Wenn Platons Wort, das Denken sei ein innerliches Sprechen, ein Urteil über zwei klar definierte Begriffe enthielte, so wäre die Identität von Denken und Sprechen eine sehr alte Behauptung; denn auf die relative Qualität des Laut oder Leise kommt es umsoweniger an, seitdem auch beim stummen Sprechen oder artikulierten Denken Bewegungsgefühle nachgewiesen worden sind. Aber die Gleichsetzung von Denken und Sprechen ist immer noch so ein gewagter Gedanke, daß auch in diesem Buche, so oft das Denken mit dem Sprechen identifiziert wurde, das Sprachgewissen hinterher vor dieser Gleichung warnte.

Sprachkritik ist selbstmörderisch, weil Kritik aus der Vernunft, also aus der Sprache stammt. Schon 1784 schrieb Hamann an Herder: "Wenn ich auch so beredt wäre wie Demosthenes, so würde ich doch nicht mehr als ein einziges Wort dreimal wiederholen müssen: Vernunft ist Sprache — logos. An diesem Markknochen nage ich und werde mich zu Tode darüber nagen." Es ist nicht bloß Bescheidenheit, wenn Hamann da von seinem "Markknochen" spricht, und dann wieder von seinem "Misthaufen" (im Gegensatz zu Herders "Lustgarten"; bei "Markknochen" denkt er sogar gewiß an den os médullaire aus dem Prologe zum Gargantua und nebenbei an den philosophischen Hund Platons).

Es ist mehr. Sprachkritik ist bedenklicher als jede andere wissenschaftliche Disziplin. Das Werkzeug, die Sprache, empört sich, will mitreden. Auch bei dem Satze: Vernunft ist Sprache. Die Sache ist darum so schwierig, weil wir auch heute noch eine klare Definition weder des Sprechens noch des Denkens besitzen. Die Unsicherheit über das Wesen der Sprache möchte noch hingehen, weil man doch wenigstens für praktische Zwecke ungefähr eine Vorstellung beim Gebrauche des Wortes Sprache hat. Das Wesen des Denkens jedoch ist so unfaßbar, daß man sich jedesmal etwas anderes vorstellt, je nachdem man dem Denken dieses oder jenes Prädikat gibt. Sagt man "das Denken ist Sprache," so stellt man sich eben sofort oder unmittelbar vorher unter dem Denken gerade das Sprechen vor.


Eine Zeitlang glaubte ich mit der Wortzusammenstellung auszukommen: die Sprache sei mit der Vernunft identisch, nicht aber mit dem Verstande. Mir schwebte dabei wohl die beliebte Unterscheidung vor, wie sie am schärfsten von Schopenhauer ausgeführt worden ist. Dabei mutet die Erklärung, Vernunft sei ein Denken in Begriffen oder Worten, umsomehr an, als Vernunft von vernehmen hergeleitet wird und vernehmen = hören offenbar auf erfassen durch Sprachmitteilung hinzuweisen scheint. Nun aber bedeutete vernehmen in der älteren Sprache gar nichts anderes als Wahrnehmen, so daß uns diese schöne Etymologie im Stiche läßt.

Vernunft und Verstand

Halten wir trotzdem an der bequemen Unterscheidung fest, die zwar nicht allgemein der Sprachgebrauch, aber doch wissenschaftlicher Sprachgebrauch vieler Denker ist, an der Unterscheidung nämlich: daß Vernunft die in Begriffen oder Worten vollzogenen Denktätigkeiten zusammenfasse, Verstand aber diejenigen Denktätigkeiten, die jedesmal eine Orientierung in der gegenwärtigen Wirklichkeitswelt oder in der wirklichen Gegenwart bezwecken, so scheint es auf den ersten Blick allerdings tunlich, die Vernunft mit der Sprache zu identifizieren, den Verstand jedoch ohne Sprache arbeiten zu lassen. Da wäre eine hübsche Definition gewonnen oder angebahnt, wenn die Sache nur so einfach läge.


Es spielt aber bei dieser Unterscheidung von Vernunft und Verstand leider der alte Aberglaube an die personifizierten Seelenvermögen mit. Will man sich die ganze Unterscheidung vorstellbar machen, so sitzt doch irgendwo in der Residenz der menschliche Geist als Herrscher, und Verstand und Vernunft sind etwa seine beiden Minister für die äußere und für die innere Welt. Hat man nun den Geist mitsamt Vernunft und Verstand als etwas Gewordenes (besser: als ein Merkwort für ewig Werdendes, wie Geschichte das Merkwort ist für ewig Geschehendes) erkannt, als ein Wort für die sich entwickelnden Kombinationen der Daten aus den sich entwickelnden Sinnen, so verschieben sich die Ressorts dieser beiden Seelen vermögen gar seltsam. 

 
Die Denktätigkeit in Worten oder Begriffen läßt sich dann immer noch mit der Sprache identifizieren; aber wenn wir die Sprache als das Gedächtnis der Menschheit erkannt haben werden, wird uns die Vernunft in diesem Sinne nichts weiter sein als die Anwendung des individuellen Gedächtnisses, welches das Gedächtnis der Menschheit ererbt und erworben hat. Die Physiologie, auch die neueste, läßt uns da im Stich. Man hat das Gedächtnis, hier das erworbene Individualgedächtnis, als die Disposition bestimmter Nerventeile definiert, wahrgenommene Sinneseindrücke wiederherzustellen.

Das ererbte Gedächtnis muß ebenfalls so eine Art Disposition sein, die aber, als auf den Keim im Menschenei zurückgehend, doch wieder auf einer anderen Erbfolge beruhen muß als das erworbene Individualgedächtnis. Wie dem auch sei, kein Mensch hätte für sich allein genügende Erfahrungen gesammelt, um aus ihnen heraus das ungeheure Gerüst seiner Muttersprache (in deren latenten Klassifikationen all seine Welterkenntnis und all sein Schließen, also all sein Denken apriorisch steckt) aufbauen zu können; den weitaus größten Teil seiner Sprache, den er für erworbenes Gedächtnis hält, hat er ererbt; darum verwendet der Durchschnittsmensch seine Sprache auch so gedankenlos; denn von nichts gilt so sehr wie von der Sprache: "Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen."

 
Es steckt also in dem Gebrauch der Muttersprache eine unverhältnismäßig große Masse von ererbtem, nicht erworbenem, nicht nachkontrolliertem Gute, das auf Treu und Glauben benutzt wird. Man könnte das in historisch-philosophischem Scherze auch so ausdrücken, daß der denkende Mensch nur erworbene Begriffe anwenden sollte, daß er aber unbewußt viel häufiger angeborene Begriffe ausspreche. Natürlich meine ich damit nicht die angeborenen Begriffe der älteren Psychologie, sondern das, was in unseren Alltagsworten an ererbten, nicht nachkontrollierten Klassifikationen und Abstraktionen steckt. Wem das klar geworden ist, der wird nicht daran zweifeln, daß wir, und wären wir Doktoren der Philosophie, Worte wie Pflanze, Tier, Himmel, Licht, Sprechen, Denken, Vernunft, Verstand, Leben, Tod, Gesundheit, Krankheit u. s. w. nur darum gebrauchen, weil wir sie ererbt haben, genau so, wie das eben ausgekrochene Küken das Körnchen aufpickt, wie die Amsel ihr Nest baut.


Die noch unter dem menschlichen Verstande eingeordnete Denktätigkeit der Tiere nennen wir Instinkt; die über dem menschlichen Verstande klassifizierte Denktätigkeit in Worten nennen wir Vernunft. Wir haben aber jetzt schon in erster Andeutung erfahren, daß in dieser Vernunft eine Masse ererbter, nicht individuell erworbener, nicht nachkontrollierter, also instinktiver Denktätigkeit versteckt ist. Man wende mir jetzt nicht wieder ein, daß die Sprache noch etwas außer ihren Teilen sei, daß das Abstraktum Sprache etwas sei außer den Worten. Nimmt man von einem Gebäude alle Steine fort und alles andere Material, so kann ein Erinnerungsbild übrig bleiben, aber ein Gebäude ist nicht mehr da. Die Sprache an sich ist ein wesenloses Unding und kann immer noch, wenn es einem Spaß macht, dem Denken an sich gleichgesetzt werden.

Denken ohne Sprache

Nun vollziehen sich Verstandesoperationen aber sehr oft ohne Mitwirkung der Sprache und sind doch Denktätigkeiten, Wenn ein Ingenieur eine Brücke von hundert Meter Spannweite zu bauen hat, so braucht er dabei allerdings gewöhnlich die Sprache, aber doch nur insofern, als Formeln und dergleichen ihm die Arbeit erleichtern. Besäße er Balken von der nötigen Länge und eine entsprechende Körperkraft, so würde er bei der Arbeit sprachlos bleiben, in anderem Sinne als die Zuschauer. Und tatsächlich vollzieht sich das eigentliche Brückenbauen so gut wie sprachlos, höchstens daß Bestellungen bei den einzelnen Fabriken ein paar technische Ausdrücke und Ziffern erfordern. Das ist Verstandesarbeit. Springt ein Mensch oder ein Hund über den Graben, so mißt er dabei sprachlos die Entfernung. Auch das ist Verstandesarbeit. Sieht der Mensch oder der Hund jenseits des Grabens eine Erdbeere oder einen Hasen, das, was ihn lockt, so hat er doch nur die Veränderung auf seiner Netzhaut gedeutet und über den Graben hinüber projiziert, was aber wieder Verstandesarbeit war.

Auf diese letzte Art von Verstandesarbeit, auf das Ausdeuten der Sinneseindrücke (auch das einfachste Sehen, Hören u. s. w. ist, wie wir jetzt wissen, Verstandesarbeit, ein Ausdeuten von Reizen, die erst durch Verstand zu Empfindungen werden) läuft alle Denktätigkeit des Verstandes hinaus. Diese Tätigkeit ist aber doch nichts anderes als eine erworbene Fähigkeit, das Individuum der Außenwirkung anzupassen, welche wir Wirklichkeit nennen. Ohne Begriffe oder Worte kommt auch da kein Mensch und kein Hund aus. Größenverhältnisse sowohl wie Gesichtsbilder sind ererbte Vorstellungen, und nur darum fehlt uns bei ihnen das Bewußtsein von Worten oder Begriffen, weil diese Verstandestätigkeiten unendlich eingeübt worden sind, seitdem es Organismen auf der Erde gibt, und weil diese Tätigkeiten dadurch automatisch geworden sind.

Es gibt nur eine Vorstellung, die noch mehr eingeübt ist, die durch noch zahlreichere Experimente unser geworden ist: die oberste weltbauende Vorstellung von einer Wirklichkeitswelt da draußen. Diese Vorstellung scheint uns komischerweise unbeweisbar, weil sie unaufhörlich bewiesen wird. Wenn wir essen, vollziehen wir jedesmal den Beweis, daß Außenwelt zu Innenwelt werden kann. Die Verstandestätigkeit scheint uns begrifflos, weil es keinen Blick und keine Fingerbewegung gibt, ohne daß Raumbegriffe u. s. w. mitgeübt würden. Ist der Graben, über den der Mensch zu springen hat, eine Elle breit, also nicht breiter als der unendlich oft eingeübte menschliche Schritt, so springt der Mensch gedankenlos hinüber; sein Verstand arbeitet automatisch. Ist der Graben Über die Gewohnheit hinaus breit, so denkt der Mensch vor dem Sprunge, und der Hund bellt vielleicht. Ist die Spannung gar hundert Meter breit und der Ingenieur auf diese Breite nicht gerade so eingeübt, daß er auch diesen Sprung automatisch vollzieht, so arbeitet der Verstand nicht mehr geräuschlos: der Ingenieur denkt und schreibt Ziffern.

Nur die Natur hat keinen Verstand, keine Vernunft, keine Sprache. Wer die Natur zur Lehrerin nehmen könnte, wäre weise ohne Sprache. Natura (sagt Spinoza im Tract. theol.-pol. I.) nobis dictat, non quidem verbis, sed modo longe excellentiore. Wir aber können der Natur nicht nachschreiben.

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Denken und Sprechen

Die Herren, welche die Sprache nur als ein Kleid des Denkens ansehen, und zwar als ein schlecht gearbeitetes, mangelhaft sitzendes Kleid (während Max Müller wieder die Sprache für ein Kleid hält, das dem Denken wunderbar gut sitzt, wie ein Handschuh der Hand, comme un gant), berufen sich darauf, daß eine tadellose Verständigung zwischen zwei Menschen, eine Gedankenübertragung ohne Rest, nicht möglich sei. Diese Tatsache wird uns immer geläufiger werden. Es gibt nur Individualsprachen, und nicht nur zwei Söhne des gleichen Sprachvolkes, sondern selbst leibliche Zwillingssöhne der gleichen Mutter haben in ihrer Sprache Differenzen, die im Gespräch zu kleinen Mißverständnissen führen können und müssen.

Wenn nun über diesen Mängeln, welche jeder Individualsprache anhaften und welche ihnen anhaften müssen, weil doch unmöglich die unzähligen verschiedenen Hohlspiegelbilder einer und derselben Welt identisch sein können, — wenn über diesen schlecht sitzenden Gewändern der Sprache ein allgemein gültiges Denken schwebte, dann wäre allerdings ein klaffender Unterschied zwischen dem Denken und dem Sprechen stabiliert und bewiesen. Und die bis zur Stunde landläufige Anschauung von unserer Welterkenntnis müßte notwendig zu der Anerkennung eines solchen Unterschiedes führen.

Sieht man in der Wirklichkeitswelt etwas absolut Gegebenes, sieht man in unserem Denken oder unserer Erkenntnis der Wirklichkeitswelt ein noch unvollständiges, aber treues Spiegelbild, dann ist allerdings jede Individualsprache nur ein verzerrtes Spiegelbild, ein Bild, das subjektiv geformte Hohlspiegel hervorgerufen haben. Und so unverscheuchbar spukt das Gespenst von einem absoluten Denken auch in guten Köpfen, daß unbewußt und unklar, aber überall neben der Existenz mangelhafter Individualsprachen, die der Hoheit des Denkens nicht ebenbürtig sein sollen, ein besonderes Abstraktum, "menschliche Sprache" genannt, angenommen wird, welches dann eine Art philosophischer Vollkommenheit besitzen soll, aus dem man sogar eine philosophische Grammatik herauspressen möchte.

Wie steht es aber um diese Dinge? Die menschliche Sprache an sich ist — wie gesagt — ein Abstraktum, ein unfaßbarer Schatten wie die alten Seelen vermögen; die menschliche Sprache an sich besitzt überhaupt keine Grammatik, geschweige denn eine philosophische Grammatik. Die einzelnen Volkssprachen, die etwas greifbarere und nützlichere Abstraktionen sind, sind doch nur die Summen aller Individualsprachen der Volksangehörigen, Summen, in denen sich die Mängel der Individualsprachen je nach Umständen verkleinern oder vergrößern, verstärken oder kompensieren.

Grammatik einer einzelnen Volkssprache ist möglich, in groben Zügen, für den Gebrauch, tot; was durch die Sprachen von Individuen und kleineren Gruppen unfügsam dazu geraten ist, das und was als Ruine aus alter Zeit stehen geblieben ist, das heißt Ausnahme. Die Sprache eines Einzelmenschen ist nicht ein falsches Bild seines Denkens, sondern ein falsches Bild seiner Außenwelt; er spricht alles aus, was er individuell denkt, nur sein Denken über die Wirklichkeitswelt ist individuell und darum falsch. Sein Denken ist der Schatz seiner ererbten und erworbenen Erfahrungen; weil jeder einzelne die in der Muttersprache scheinbar gleichmäßig angehäuften ererbten Erfahrungen ebenso individuell versteht, wie seine erworbenen Erfahrungen individuell sind, darum versteht kein Mensch den anderen. Nicht an der Sprache liegt es, sondern am Denken. Das Denken ist es, was wie ein schlechtes Kleid schlecht zur Wirklichkeitswelt paßt; die Sprache unterscheidet sich vom Denken so wenig, als das Tuch, woraus der Rock gemacht ist, sich vom Rocke unterscheidet. Wenn ein Rock mir schlecht sitzt, so trägt das Tuch nicht die Schuld.

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Denken

In der Wirklichkeit und in der Geschichte gibt es nun weder ein abstraktes Denken noch eine abstrakte Sprache. Zur Not gibt es da eine Summe von Vorstellungen einer ungefähr geschlossenen Menschengruppe, von Erinnerungen, Begriffen und Gewohnheiten, die wir wohl oder übel die Kultur eines Volkes nennen können; zur Not gibt es da die Summe von Worten und Wortformen, die wir die Sprache diesesVolkes nennen. Offenbar deckt sich Kultur und Sprache eines Volkes. Die Sprache ist das treue Spiegelbild der Kultur. Welche Stellung nimmt nun das Denken zwischen der Kultur und der Sprache eines Volkes ein? Was ist das Denken, wenn die gesamte Kultur die Wirklichkeit ist und die Sprache die Summe der Gedächtniszeichen dieser Wirklichkeit? 

Ein Australneger, der nie eine Eisenbahn gesehen und nie von einer gehört hat, besitzt das Wort nicht, weil er das Ding nicht kennt. Wie wäre ihm nun der Begriff Eisenbahn beizubringen? Unwillkürlich habe ich da anstatt eines Volkes ein Individuum gesetzt, einen einzelnen Australneger. Unwillkürlich, weil mir vorher nicht so deutlich wurde wie in diesem Augenblicke, daß ich bei Kultur und bei Sprache etwas Vorstellbares besitze, wenn ich eine Summe von Erscheinungen zusammenfasse, daß ich aber beim Denken unmöglich über die Vorgänge im individuellen Gehirn hinausgelangen kann. Wer sich nun damit begnügen wollte, mit Worten Fangball zu spielen, der könnte jetzt triumphierend ausrufen: die Sprache sei das gemeinsame Bewußtsein eines Volkes, etwas zwischen den Menschen, das Denken der persönliche Anteil eines jeden an diesem Bewußtsein. Das wäre vielleicht ganz hübsch gesagt.

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Wortloses Denken

Es wissen nun die neueren Sprachphilosophen, welche so erstaunlich genau zwischen Denken und Sprechen distinguieren, recht gut, daß sie uns mit Allgemeinheiten über das Wesen der Sprache nicht kommen dürfen. An den Individualsprachen und womöglich am Sprechenlernen eines Kindes suchen sie nachzuweisen, daß es ein wortloses Denken, eine wortlose Logik gebe. Zwischen den Zeilen ist dann zu lesen, daß bei normalen erwachsenen Menschen wohl Denken und Sprechen zusammenfallen müsse, daß — eben nach Platons Worte — das Denken ein inneres Sprechen sei, daß das Denken jedoch schon vor dem Sprechenlernen auftrete. 

Nun bemerkt Preyer ganz gut, daß die Begriffe der Kinder anders sind als die der Erwachsenen, und er stellt schulgerecht den Satz auf, daß diese kindlichen Begriffe einen engeren Inhalt und entsprechend einen weiteren Umfang haben als die unseren. Wäre diese Ausdrucksweise der Logik richtig angewendet, so müßten die Kinder mit sehr abstrakten Begriffen operieren können. In Wirklichkeit jedoch besteht der weitere Umfang der Kinderbegriffe nur in einer unkontrollierbaren und von Tag zu Tag wechselnden Unklarheit. Der engere Inhalt ist nicht mathematisch enger, sondern das Kind erweitert den Umfang und verengt den Inhalt, je nach der augenblicklichen Anregung. Es verknüpft ein Wort oder einen Begriff mit der sich ihm augenblicklich aufdrängenden Vorstellung, weil es die Sprache noch nicht beherrscht. 

Die Begriffe des Kindes stehen den Begriffen der Tiere nahe. Und Preyer verwechselt immer wieder unmittelbare Vorstellungen mit begrifflich fixierten Erinnerungen. Einige Beispiele Preyers sprechen schlagend gegen ihn. Er findet es logisch gedacht, wenn das Kind noch vor dem Gebrauch der Sprache eine Tür daraufhin untersucht, ob sie geschlossen sei oder nicht. Dann müßte er aber auch vom Hunde, der in noch klarerer Absicht mit der Pfote an der Türe kratzt, behaupten, daß er ohne Sprache "logisch" denke. 

Bewundernswert logisch findet es Preyer auch, wenn ein anderthalbjähriges Kind Vergnügen daran findet, mit einer leeren Gießkanne von Blumentopf zu Blumentopf zu gehen und jeden scheinbar zu begießen; er sagt ausdrücklich, es sei da für das Kind der Begriff "Gießkanne" identisch mit dem Begriffe "gefüllte Gießkanne". Ein Erwachsener wäre um diese Art Logik nicht zu beneiden. Der Denkprozeß, wonach in einer Gießkanne unbedingt Wasser enthalten sein müsse, weil in dem Worte der Begriff "gießen" stecke, erinnert ganz verzweifelt an die unerträglichen Spitzfindigkeiten der Scholastiker; hätte das Kind wirklich einen solchen Schluß gezogen, so wäre es beinahe so sophistisch weise wie Anselm von Canterbury und seine Nachfolger, welche in ihrem berühmten ontologischen Beweise die Existenz Gottes daraus herstellen, daß im Begriff der Vollkommenheit auch der Begriff der Wirklichkeit mit verborgen sei. 

So dumm ist aber das Kind gar nicht. Es hat mit der Gießkanne nicht logisch operiert, sondern in kindlicher Weise gespielt. In einer Weise, die unentschieden läßt, wie weit das Kind sich des Spieles bewußt ist. Kinder dieses Alters halten auch das Versteckspielen für eine ernsthafte Beschäftigung. Was Preyer für vorsprachliche Logik gehalten hat, für eine wortlose Schlußfolgerung, das ist Phantasie, das ist Poesie.

Quelle: Fritz Mauthner Wesen der Sprache - Beiträge zu einer Kritik der Sprache
Erster Band, Stuttgart/Berlin (1906); IX.: Denken und Sprechen