Sonntag, 6. April 2014

Die Entdeckung des savoyischen Vikars.


I.Friedrich, pixelio.de

Kein materielles Wasen ist durch sich selbst tätig, ich aber bin es. Vergeblich wird man mir dies zu bestreiten suchen, ich fühle es, und dies Gefühl, welches zu mir spricht, ist stärker als die Vernunft, welche es bekämpft. Ich besitze einen Körper, auf welchen die anderen ebenso einwirken wie er auf sie. Diese wechselseitige Einwirkung aufeinander ist unzweifelhaft; aber mein Wille ist von meinen Sinnen unabhängig, ich stimme bei oder widerstehe, ich unterliege / oder bleibe Sieger, immer sagt mir eine innere Stimme, ob ich getan habe, was ich habe tun wollen, oder ob ich nur meinen Leidenschaften nachgegeben habe. Zwar habe ich stets die Macht zu wollen, aber nicht immer die Macht zur Ausführung des Gewollten. Wenn ich mich den Versuchungen ergebe, so lasse ich mich bei meinem Handeln durch den Antrieb äußerer Objekte bestimmen. Wenn ich mir dagegen wegen meiner Schwäche Vorwürfe mache, so schenke ich nur meinem Willen Gehör. Ich bin durch meine Laster Sklave, und frei durch meine Gewissensbisse. Das Gefühl meiner Freiheit verliert sich in mir nur dann, wenn ich sittlich so tief sinke, daß ich die Stimme der Seele verhindere, sich gegen das Gesetz des Körpers zu erheben.

Ich kenne den Willen nur, insoweit ich mir des meinigen bewußt werde, und der Verstand ist mir nicht besser bekannt. Wenn man mich nach der Ursache fragt, welche meinen Willen bestimmt, so frage ich meinerseits nach der Ursache, welche mein Urteil bestimmt; denn es ist klar, daß diese beiden Ursachen eigentlich nur eine einzige ausmachen; und wenn man genau begreift, daß der Mensch beim Fällen seiner Urteile eine Tätigkeit ausübt, daß sein Verstand in nichts anderem als in der Fähigkeit zu vergleichen und zu urteilen besteht, dann wird man auch begreiflich finden, daß seine Freiheit nur eine ähnliche oder von jener abgeleitete Fähigkeit ist. Er wählt das Gute nach dem, was seinem Urteil zufolge das Wahre ist; hat er ein falsches Urteil gefällt, so wird auch seine Wahl schlecht sein. Welches ist also die Ursache, die seinen Willen bestimmt? Es ist sein Urteil. Und welches ist nun wieder die Ursache, die sein Urteil bestimmt? Es ist seine geistige Fähigkeit, sein Vermögen, zu urteilen. Die bestimmende Ursache liegt in ihm selbst. Hier ist die Grenze, über welche hinaus ich nichts mehr verstehe. 

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J. J. Rousseau, Émile oder Ueber die Erziehung [1762]
Band 2, Leipzig [o.J.], S. 156f. 


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