Freitag, 16. Oktober 2015

Das sprachanalytische Bauklötzchenspiel.



"Ein Gespenst geht um an Deutschlands philosophischen Seminaren: das Gespenst eines Weltsiegs der analy-tischen Philosophie und eines Massenexodus der geschlagenen kontinentalen Philosophie. Wohin zieht sie? Vorwiegend in andere Erdteile: nach Ostasien, Australien, Brasilien oder, ausgerechnet, in die Vereinigten Staaten, von denen der entscheidende Schlag gegen die kontinentaleuropäische Philosophietradition geführt wurde." 

So schrieb Manfred Frank am 24. 9. in der FAZ. "Wer heute das Markenzeichen der deutschsprachigen Philo-sophie, den deutschen Idealismus (die unmittelbar an Kant anschließende spekulative deutsche Philosophie), studieren will, wird kaum von einer deutschsprachigen Universität durch ihr Lehrangebot, geschweige durch ihre Lehrpläne dazu ermutigt. Ja, ein Student wird ernsthaft überlegen, ob er sein Interesse nicht besser in Sydney, Notre Dame, Georgetown oder Chicago wird befriedigen können. Die Universitäten zumal der Ver-einigten Staaten haben eine lange Tradition in der Aufnahme deutscher Philosophen, die sich im geistigpoliti-schen Klima ihrer Heimat unwohl fühlten oder geradezu verfolgt wurden."

Gestern brachte dieselbe Zeitung eine Replik des Berliner analytischen Philosophen Tobias Rosefeldt


Zunächst zum Faktischen: Wohl habe es einen Rückgang der Beschäftigung mit der philosophischen Tradition - Continental Philosophy heißt das auf Amerikanisch - gegeben. "Dass die Lage so dramatisch ist, wie Frank sie beschreibt, lässt sich aber mit guten Gründen bezweifeln. An den Instituten in Basel, Konstanz, Leipzig und Tübingen sind in jüngerer Vergangenheit insgesamt fünf Lehrstühle mit Philosophen besetzt worden, die ihren Forschungsschwerpunkt im deutschen Idealismus haben. Im Fall von Konstanz ist das sogar an einem traditio-nell stark analytisch ausgerichteten Institut geschehen, an dem es zuvor noch nie jemanden mit diesem Profil gab."

Doch sogleich folgt ein Satz, der schon an die philosophische Sache selber rührt: "Nimmt man zudem an (wie jeder vernünftige Mensch es tun sollte), dass die Glanzzeit der deutschsprachigen Philosophie nicht, wie Frank schreibt, der deutsche Idealismus nach Kant, sondern die klassische deutsche Philosophie seit Kant ist, dann entpuppt sich die Behauptung, dass zu dieser Epoche in Deutschland nicht mehr intensiv geforscht und gelehrt wird, als drastische Übertreibung." Zu den vernünftigen Menschen zählt er Manfred Frank dann ja wohl nicht, und ich dürfte mich auch nicht dazu zählen. Denn zwar nehme ich das Wort 'deutscher Idealismus' nur mit gespitzten Lippen in den Mund, aber das, was Manfred Frank meint, halte auch ich für den noch immer sprin-genden Punkt nicht nur der deutschen, sondern der Philosophiegeschichte überhaupt: die eine, einzige Genera-tion, in der die Philosophie im Zeichen der Kritik und der kantisch-kopernikanischen Wende stand. 

Dreißig Jahre Hegel, dann ein Vierteljahrhundert verbrannte Erde, die er und seine Gefolgsleute hinterlassen haben, danach ein gutes halbes Jahrhundert Universitätsphilosophie, von der die Neukantianer immernoch das beste Stück ausmachten - das mag es sein, was Tobias Rosefeldt unter der "klassischen deutschen Philosophie seit Kant" versteht. Dass die dem analytischen Heuschreckenschwarm nicht ganz unverdient erlegen ist, wie Rosefeldt durchblicken lässt, wird in der Tat ein vernünftiger Mensch kaum bestreiten; wohl aber seine Begrün-dung: Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie liefe auf sterile Philologie hinaus, und davon habe die analytische Welle so manche deutsche Universität glücklich befreit. 

Wahr ist, dass unter analytischen Auspizien mancher Student glaubt, das, was in zweieinhalb Jahrtausenden vor ihm gedacht wurde, unbeachtet liegen lassen und unbefangen ganz von vorne anfangen zu können - sofern er nur seinen Wortgebrauch hinlänglich geklärt hat. Und so "begann in jüngerer Zeit eine neue Scholastik, eher: ein neuer Wolffianismus an Deutschlands Philosophischen Seminaren. So nannte man die Philosophie, die im achtzehnten Jahrhundert im Anschluss an Christian Wolff aus Leibnizens genialen Aperçus eine zusammen-hängende, eine systematische 'Schulphilosophie' - eben eine Scholastik - zu errichten versuchte und flächende-ckend die deutschen Universitäten beherrschte. Schon damals gab es eine allgemein anerkannte Terminologie, man stritt sich um Tüttelchen von Wortdefinitionen, man spaltete die dünnsten Begriffshärchen; aber man war sich einig im Dissens, weil man die gleichen Verfahren und dieselben Definitionen benutzte." Diese Leute glaubten, alles verstanden zu haben, sobald sie es nur definieren konnten,  hat, wenn ich nicht irre, Marx einmal über jene Schule gesagt, der auch sonst auf den an deutschen Hochschulen waltenden "doktrinären Definiti-onsdünkel" nicht gut zu sprechen war.

Und genau an der richtigen Stelle fügt Manfred Frank ein: "Der scholastische Trend wird durch die Uniformie-rung und Verschulung der Studiengänge nach Bologna fast alternativlos. Statt großer Themen, statt Forschun-gen mit großem Atem ist eine Mikrologie von Argumentanalysen um ihrer selbst willen in die philosophischen Debatten eingezogen, die das Interesse gerade auch der anschlussfähig geglaubten Naturwissenschaftler ver-spielt, die Philosophie isoliert und das Gros der Studenten abschreckt oder ins Ausland vertreibt."

Dem tritt Rosefeldt mit einer kühnen Volte entgegen: "In der historischen Philosophie versucht man zu ver-stehen, was ein bestimmter Autor behauptet, wie er es begründet und ob das, was er sagt, plausibel ist. Syste-matisch zu philosophieren heißt dagegen, selbst eine philosophische Frage zu beantworten und die Schriften anderer Autoren nur dazu zu verwenden, dies auf die beste mögliche Weise zu tun. Das ist eine ganz andere Herangehensweise als die der Interpretation. ...Denn hat man einmal verstanden, was es heißt, selbst zu philo-sophieren, dann ist klar, dass man das nicht einfach mit den Worten und Methoden von Kant und Hegel tun kann. Das funktioniert so wenig, wie man heute im Stil von Beethoven Musik komponieren kann. Man braucht eine eigene Sprache, eine, deren Bedeutung so klar ist, dass sie nicht erst der Interpretation bedarf."

Wenn die Bauklötzchen nur fein säuberlich gebastelt sind, werden alle Türmchen halten, so schief sie auch wären. Das meint er im Ernst: Nicht die Welt, nicht das Leben, nicht - ach Gott - die Existenz bedürfen der Erhellung; sondern die Wörter, die man darüber sagt, müssen so sein, dass sie nicht der Interpretation bedür-fen. Er meint gar keine systematische, er meint eine lexikalische Philosophie.

Anders als Manfred Frank bin ich philologisch ganz unbeschlagen. Ich lese die Quellen, um selber etwas zu verstehen - die Texte; natürlich; aber nur, um die Themen zu verstehen, von denen sie handeln. Ganz ohne Philologie geht das nicht immer ab, aber "das dichte semantische Potential dieser Klassiker sorgt dafür, dass sich in ihnen immer wieder Neues entdecken lässt. Neues mit Wahrheitsanspruch, nicht, was von der philo-sophischen Tradition in den Staaten wegen seines 'Tiefsinns' kurzerhand verächtlich der Poesie zugeschlagen und an literaturwissenschaftlichen oder Critical-Theory-Departments behandelt wird. Neues, das die Kraft besitzt, auch das Konzert der aktuellsten Analyse noch zu innovieren."

Manfred Frank hat sich während eines ganzen akademischen Lebens ganz besonders der Philosophie der deutschen Romantik angenommen, der Philosophie, in der der Kant'sche Keim, der transzendentale Gedanke noch virulent war. Eben weil sich nicht in den akademischen Kanon eingegangen, weil sie nicht 'traditionell' geworden, weil sie kein akademisches Guthaben ist, das man bunkern kann. Von der ursprünglichen Einsicht Johann Gottlieb Fichtes, des Philosophen im Jenaer Romantiker-Kreis, "urteilte Dieter Henrich 1966, die Philosophie habe sie vergessen, mehr noch, hat sie niemals zur Kenntnis genommen". 

Es geschieht mir nicht oft, dass ich einem fremden Text vorbehaltlos zustimmen kann.
 




Nota. Das obige Foto gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog. JE 

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