Samstag, 19. August 2017

"Sprache ist das kollektive Gedächtnis der Menschheit."

 
aus
Fritz Mauthner, 
Wesen der Sprache- Beiträge zu einer Kritik der Sprache

Sprechen, Denken, Vernunft

Wenn Platons Wort, das Denken sei ein innerliches Sprechen, ein Urteil über zwei klar definierte Begriffe enthielte, so wäre die Identität von Denken und Sprechen eine sehr alte Behauptung; denn auf die relative Qualität des Laut oder Leise kommt es umsoweniger an, seitdem auch beim stummen Sprechen oder artikulierten Denken Bewegungsgefühle nachgewiesen worden sind. Aber die Gleichsetzung von Denken und Sprechen ist immer noch so ein gewagter Gedanke, daß auch in diesem Buche, so oft das Denken mit dem Sprechen identifiziert wurde, das Sprachgewissen hinterher vor dieser Gleichung warnte.

Sprachkritik ist selbstmörderisch, weil Kritik aus der Vernunft, also aus der Sprache stammt. Schon 1784 schrieb Hamann an Herder: "Wenn ich auch so beredt wäre wie Demosthenes, so würde ich doch nicht mehr als ein einziges Wort dreimal wiederholen müssen: Vernunft ist Sprache — logos. An diesem Markknochen nage ich und werde mich zu Tode darüber nagen." Es ist nicht bloß Bescheidenheit, wenn Hamann da von seinem "Markknochen" spricht, und dann wieder von seinem "Misthaufen" (im Gegensatz zu Herders "Lustgarten"; bei "Markknochen" denkt er sogar gewiß an den os médullaire aus dem Prologe zum Gargantua und nebenbei an den philosophischen Hund Platons).

Es ist mehr. Sprachkritik ist bedenklicher als jede andere wissenschaftliche Disziplin. Das Werkzeug, die Sprache, empört sich, will mitreden. Auch bei dem Satze: Vernunft ist Sprache. Die Sache ist darum so schwierig, weil wir auch heute noch eine klare Definition weder des Sprechens noch des Denkens besitzen. Die Unsicherheit über das Wesen der Sprache möchte noch hingehen, weil man doch wenigstens für praktische Zwecke ungefähr eine Vorstellung beim Gebrauche des Wortes Sprache hat. Das Wesen des Denkens jedoch ist so unfaßbar, daß man sich jedesmal etwas anderes vorstellt, je nachdem man dem Denken dieses oder jenes Prädikat gibt. Sagt man "das Denken ist Sprache," so stellt man sich eben sofort oder unmittelbar vorher unter dem Denken gerade das Sprechen vor.


Eine Zeitlang glaubte ich mit der Wortzusammenstellung auszukommen: die Sprache sei mit der Vernunft identisch, nicht aber mit dem Verstande. Mir schwebte dabei wohl die beliebte Unterscheidung vor, wie sie am schärfsten von Schopenhauer ausgeführt worden ist. Dabei mutet die Erklärung, Vernunft sei ein Denken in Begriffen oder Worten, umsomehr an, als Vernunft von vernehmen hergeleitet wird und vernehmen = hören offenbar auf erfassen durch Sprachmitteilung hinzuweisen scheint. Nun aber bedeutete vernehmen in der älteren Sprache gar nichts anderes als Wahrnehmen, so daß uns diese schöne Etymologie im Stiche läßt.

Vernunft und Verstand

Halten wir trotzdem an der bequemen Unterscheidung fest, die zwar nicht allgemein der Sprachgebrauch, aber doch wissenschaftlicher Sprachgebrauch vieler Denker ist, an der Unterscheidung nämlich: daß Vernunft die in Begriffen oder Worten vollzogenen Denktätigkeiten zusammenfasse, Verstand aber diejenigen Denktätigkeiten, die jedesmal eine Orientierung in der gegenwärtigen Wirklichkeitswelt oder in der wirklichen Gegenwart bezwecken, so scheint es auf den ersten Blick allerdings tunlich, die Vernunft mit der Sprache zu identifizieren, den Verstand jedoch ohne Sprache arbeiten zu lassen. Da wäre eine hübsche Definition gewonnen oder angebahnt, wenn die Sache nur so einfach läge.


Es spielt aber bei dieser Unterscheidung von Vernunft und Verstand leider der alte Aberglaube an die personifizierten Seelenvermögen mit. Will man sich die ganze Unterscheidung vorstellbar machen, so sitzt doch irgendwo in der Residenz der menschliche Geist als Herrscher, und Verstand und Vernunft sind etwa seine beiden Minister für die äußere und für die innere Welt. Hat man nun den Geist mitsamt Vernunft und Verstand als etwas Gewordenes (besser: als ein Merkwort für ewig Werdendes, wie Geschichte das Merkwort ist für ewig Geschehendes) erkannt, als ein Wort für die sich entwickelnden Kombinationen der Daten aus den sich entwickelnden Sinnen, so verschieben sich die Ressorts dieser beiden Seelen vermögen gar seltsam. 

 
Die Denktätigkeit in Worten oder Begriffen läßt sich dann immer noch mit der Sprache identifizieren; aber wenn wir die Sprache als das Gedächtnis der Menschheit erkannt haben werden, wird uns die Vernunft in diesem Sinne nichts weiter sein als die Anwendung des individuellen Gedächtnisses, welches das Gedächtnis der Menschheit ererbt und erworben hat. Die Physiologie, auch die neueste, läßt uns da im Stich. Man hat das Gedächtnis, hier das erworbene Individualgedächtnis, als die Disposition bestimmter Nerventeile definiert, wahrgenommene Sinneseindrücke wiederherzustellen.

Das ererbte Gedächtnis muß ebenfalls so eine Art Disposition sein, die aber, als auf den Keim im Menschenei zurückgehend, doch wieder auf einer anderen Erbfolge beruhen muß als das erworbene Individualgedächtnis. Wie dem auch sei, kein Mensch hätte für sich allein genügende Erfahrungen gesammelt, um aus ihnen heraus das ungeheure Gerüst seiner Muttersprache (in deren latenten Klassifikationen all seine Welterkenntnis und all sein Schließen, also all sein Denken apriorisch steckt) aufbauen zu können; den weitaus größten Teil seiner Sprache, den er für erworbenes Gedächtnis hält, hat er ererbt; darum verwendet der Durchschnittsmensch seine Sprache auch so gedankenlos; denn von nichts gilt so sehr wie von der Sprache: "Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen."

 
Es steckt also in dem Gebrauch der Muttersprache eine unverhältnismäßig große Masse von ererbtem, nicht erworbenem, nicht nachkontrolliertem Gute, das auf Treu und Glauben benutzt wird. Man könnte das in historisch-philosophischem Scherze auch so ausdrücken, daß der denkende Mensch nur erworbene Begriffe anwenden sollte, daß er aber unbewußt viel häufiger angeborene Begriffe ausspreche. Natürlich meine ich damit nicht die angeborenen Begriffe der älteren Psychologie, sondern das, was in unseren Alltagsworten an ererbten, nicht nachkontrollierten Klassifikationen und Abstraktionen steckt. Wem das klar geworden ist, der wird nicht daran zweifeln, daß wir, und wären wir Doktoren der Philosophie, Worte wie Pflanze, Tier, Himmel, Licht, Sprechen, Denken, Vernunft, Verstand, Leben, Tod, Gesundheit, Krankheit u. s. w. nur darum gebrauchen, weil wir sie ererbt haben, genau so, wie das eben ausgekrochene Küken das Körnchen aufpickt, wie die Amsel ihr Nest baut.


Die noch unter dem menschlichen Verstande eingeordnete Denktätigkeit der Tiere nennen wir Instinkt; die über dem menschlichen Verstande klassifizierte Denktätigkeit in Worten nennen wir Vernunft. Wir haben aber jetzt schon in erster Andeutung erfahren, daß in dieser Vernunft eine Masse ererbter, nicht individuell erworbener, nicht nachkontrollierter, also instinktiver Denktätigkeit versteckt ist. Man wende mir jetzt nicht wieder ein, daß die Sprache noch etwas außer ihren Teilen sei, daß das Abstraktum Sprache etwas sei außer den Worten. Nimmt man von einem Gebäude alle Steine fort und alles andere Material, so kann ein Erinnerungsbild übrig bleiben, aber ein Gebäude ist nicht mehr da. Die Sprache an sich ist ein wesenloses Unding und kann immer noch, wenn es einem Spaß macht, dem Denken an sich gleichgesetzt werden.

Denken ohne Sprache

Nun vollziehen sich Verstandesoperationen aber sehr oft ohne Mitwirkung der Sprache und sind doch Denktätigkeiten, Wenn ein Ingenieur eine Brücke von hundert Meter Spannweite zu bauen hat, so braucht er dabei allerdings gewöhnlich die Sprache, aber doch nur insofern, als Formeln und dergleichen ihm die Arbeit erleichtern. Besäße er Balken von der nötigen Länge und eine entsprechende Körperkraft, so würde er bei der Arbeit sprachlos bleiben, in anderem Sinne als die Zuschauer. Und tatsächlich vollzieht sich das eigentliche Brückenbauen so gut wie sprachlos, höchstens daß Bestellungen bei den einzelnen Fabriken ein paar technische Ausdrücke und Ziffern erfordern. Das ist Verstandesarbeit. Springt ein Mensch oder ein Hund über den Graben, so mißt er dabei sprachlos die Entfernung. Auch das ist Verstandesarbeit. Sieht der Mensch oder der Hund jenseits des Grabens eine Erdbeere oder einen Hasen, das, was ihn lockt, so hat er doch nur die Veränderung auf seiner Netzhaut gedeutet und über den Graben hinüber projiziert, was aber wieder Verstandesarbeit war.

Auf diese letzte Art von Verstandesarbeit, auf das Ausdeuten der Sinneseindrücke (auch das einfachste Sehen, Hören u. s. w. ist, wie wir jetzt wissen, Verstandesarbeit, ein Ausdeuten von Reizen, die erst durch Verstand zu Empfindungen werden) läuft alle Denktätigkeit des Verstandes hinaus. Diese Tätigkeit ist aber doch nichts anderes als eine erworbene Fähigkeit, das Individuum der Außenwirkung anzupassen, welche wir Wirklichkeit nennen. Ohne Begriffe oder Worte kommt auch da kein Mensch und kein Hund aus. Größenverhältnisse sowohl wie Gesichtsbilder sind ererbte Vorstellungen, und nur darum fehlt uns bei ihnen das Bewußtsein von Worten oder Begriffen, weil diese Verstandestätigkeiten unendlich eingeübt worden sind, seitdem es Organismen auf der Erde gibt, und weil diese Tätigkeiten dadurch automatisch geworden sind.

Es gibt nur eine Vorstellung, die noch mehr eingeübt ist, die durch noch zahlreichere Experimente unser geworden ist: die oberste weltbauende Vorstellung von einer Wirklichkeitswelt da draußen. Diese Vorstellung scheint uns komischerweise unbeweisbar, weil sie unaufhörlich bewiesen wird. Wenn wir essen, vollziehen wir jedesmal den Beweis, daß Außenwelt zu Innenwelt werden kann. Die Verstandestätigkeit scheint uns begrifflos, weil es keinen Blick und keine Fingerbewegung gibt, ohne daß Raumbegriffe u. s. w. mitgeübt würden. Ist der Graben, über den der Mensch zu springen hat, eine Elle breit, also nicht breiter als der unendlich oft eingeübte menschliche Schritt, so springt der Mensch gedankenlos hinüber; sein Verstand arbeitet automatisch. Ist der Graben Über die Gewohnheit hinaus breit, so denkt der Mensch vor dem Sprunge, und der Hund bellt vielleicht. Ist die Spannung gar hundert Meter breit und der Ingenieur auf diese Breite nicht gerade so eingeübt, daß er auch diesen Sprung automatisch vollzieht, so arbeitet der Verstand nicht mehr geräuschlos: der Ingenieur denkt und schreibt Ziffern.

Nur die Natur hat keinen Verstand, keine Vernunft, keine Sprache. Wer die Natur zur Lehrerin nehmen könnte, wäre weise ohne Sprache. Natura (sagt Spinoza im Tract. theol.-pol. I.) nobis dictat, non quidem verbis, sed modo longe excellentiore. Wir aber können der Natur nicht nachschreiben.

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Denken und Sprechen

Die Herren, welche die Sprache nur als ein Kleid des Denkens ansehen, und zwar als ein schlecht gearbeitetes, mangelhaft sitzendes Kleid (während Max Müller wieder die Sprache für ein Kleid hält, das dem Denken wunderbar gut sitzt, wie ein Handschuh der Hand, comme un gant), berufen sich darauf, daß eine tadellose Verständigung zwischen zwei Menschen, eine Gedankenübertragung ohne Rest, nicht möglich sei. Diese Tatsache wird uns immer geläufiger werden. Es gibt nur Individualsprachen, und nicht nur zwei Söhne des gleichen Sprachvolkes, sondern selbst leibliche Zwillingssöhne der gleichen Mutter haben in ihrer Sprache Differenzen, die im Gespräch zu kleinen Mißverständnissen führen können und müssen.

Wenn nun über diesen Mängeln, welche jeder Individualsprache anhaften und welche ihnen anhaften müssen, weil doch unmöglich die unzähligen verschiedenen Hohlspiegelbilder einer und derselben Welt identisch sein können, — wenn über diesen schlecht sitzenden Gewändern der Sprache ein allgemein gültiges Denken schwebte, dann wäre allerdings ein klaffender Unterschied zwischen dem Denken und dem Sprechen stabiliert und bewiesen. Und die bis zur Stunde landläufige Anschauung von unserer Welterkenntnis müßte notwendig zu der Anerkennung eines solchen Unterschiedes führen.

Sieht man in der Wirklichkeitswelt etwas absolut Gegebenes, sieht man in unserem Denken oder unserer Erkenntnis der Wirklichkeitswelt ein noch unvollständiges, aber treues Spiegelbild, dann ist allerdings jede Individualsprache nur ein verzerrtes Spiegelbild, ein Bild, das subjektiv geformte Hohlspiegel hervorgerufen haben. Und so unverscheuchbar spukt das Gespenst von einem absoluten Denken auch in guten Köpfen, daß unbewußt und unklar, aber überall neben der Existenz mangelhafter Individualsprachen, die der Hoheit des Denkens nicht ebenbürtig sein sollen, ein besonderes Abstraktum, "menschliche Sprache" genannt, angenommen wird, welches dann eine Art philosophischer Vollkommenheit besitzen soll, aus dem man sogar eine philosophische Grammatik herauspressen möchte.

Wie steht es aber um diese Dinge? Die menschliche Sprache an sich ist — wie gesagt — ein Abstraktum, ein unfaßbarer Schatten wie die alten Seelen vermögen; die menschliche Sprache an sich besitzt überhaupt keine Grammatik, geschweige denn eine philosophische Grammatik. Die einzelnen Volkssprachen, die etwas greifbarere und nützlichere Abstraktionen sind, sind doch nur die Summen aller Individualsprachen der Volksangehörigen, Summen, in denen sich die Mängel der Individualsprachen je nach Umständen verkleinern oder vergrößern, verstärken oder kompensieren.

Grammatik einer einzelnen Volkssprache ist möglich, in groben Zügen, für den Gebrauch, tot; was durch die Sprachen von Individuen und kleineren Gruppen unfügsam dazu geraten ist, das und was als Ruine aus alter Zeit stehen geblieben ist, das heißt Ausnahme. Die Sprache eines Einzelmenschen ist nicht ein falsches Bild seines Denkens, sondern ein falsches Bild seiner Außenwelt; er spricht alles aus, was er individuell denkt, nur sein Denken über die Wirklichkeitswelt ist individuell und darum falsch. Sein Denken ist der Schatz seiner ererbten und erworbenen Erfahrungen; weil jeder einzelne die in der Muttersprache scheinbar gleichmäßig angehäuften ererbten Erfahrungen ebenso individuell versteht, wie seine erworbenen Erfahrungen individuell sind, darum versteht kein Mensch den anderen. Nicht an der Sprache liegt es, sondern am Denken. Das Denken ist es, was wie ein schlechtes Kleid schlecht zur Wirklichkeitswelt paßt; die Sprache unterscheidet sich vom Denken so wenig, als das Tuch, woraus der Rock gemacht ist, sich vom Rocke unterscheidet. Wenn ein Rock mir schlecht sitzt, so trägt das Tuch nicht die Schuld.

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Denken

In der Wirklichkeit und in der Geschichte gibt es nun weder ein abstraktes Denken noch eine abstrakte Sprache. Zur Not gibt es da eine Summe von Vorstellungen einer ungefähr geschlossenen Menschengruppe, von Erinnerungen, Begriffen und Gewohnheiten, die wir wohl oder übel die Kultur eines Volkes nennen können; zur Not gibt es da die Summe von Worten und Wortformen, die wir die Sprache diesesVolkes nennen. Offenbar deckt sich Kultur und Sprache eines Volkes. Die Sprache ist das treue Spiegelbild der Kultur. Welche Stellung nimmt nun das Denken zwischen der Kultur und der Sprache eines Volkes ein? Was ist das Denken, wenn die gesamte Kultur die Wirklichkeit ist und die Sprache die Summe der Gedächtniszeichen dieser Wirklichkeit? 

Ein Australneger, der nie eine Eisenbahn gesehen und nie von einer gehört hat, besitzt das Wort nicht, weil er das Ding nicht kennt. Wie wäre ihm nun der Begriff Eisenbahn beizubringen? Unwillkürlich habe ich da anstatt eines Volkes ein Individuum gesetzt, einen einzelnen Australneger. Unwillkürlich, weil mir vorher nicht so deutlich wurde wie in diesem Augenblicke, daß ich bei Kultur und bei Sprache etwas Vorstellbares besitze, wenn ich eine Summe von Erscheinungen zusammenfasse, daß ich aber beim Denken unmöglich über die Vorgänge im individuellen Gehirn hinausgelangen kann. Wer sich nun damit begnügen wollte, mit Worten Fangball zu spielen, der könnte jetzt triumphierend ausrufen: die Sprache sei das gemeinsame Bewußtsein eines Volkes, etwas zwischen den Menschen, das Denken der persönliche Anteil eines jeden an diesem Bewußtsein. Das wäre vielleicht ganz hübsch gesagt.

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Wortloses Denken

Es wissen nun die neueren Sprachphilosophen, welche so erstaunlich genau zwischen Denken und Sprechen distinguieren, recht gut, daß sie uns mit Allgemeinheiten über das Wesen der Sprache nicht kommen dürfen. An den Individualsprachen und womöglich am Sprechenlernen eines Kindes suchen sie nachzuweisen, daß es ein wortloses Denken, eine wortlose Logik gebe. Zwischen den Zeilen ist dann zu lesen, daß bei normalen erwachsenen Menschen wohl Denken und Sprechen zusammenfallen müsse, daß — eben nach Platons Worte — das Denken ein inneres Sprechen sei, daß das Denken jedoch schon vor dem Sprechenlernen auftrete. 

Nun bemerkt Preyer ganz gut, daß die Begriffe der Kinder anders sind als die der Erwachsenen, und er stellt schulgerecht den Satz auf, daß diese kindlichen Begriffe einen engeren Inhalt und entsprechend einen weiteren Umfang haben als die unseren. Wäre diese Ausdrucksweise der Logik richtig angewendet, so müßten die Kinder mit sehr abstrakten Begriffen operieren können. In Wirklichkeit jedoch besteht der weitere Umfang der Kinderbegriffe nur in einer unkontrollierbaren und von Tag zu Tag wechselnden Unklarheit. Der engere Inhalt ist nicht mathematisch enger, sondern das Kind erweitert den Umfang und verengt den Inhalt, je nach der augenblicklichen Anregung. Es verknüpft ein Wort oder einen Begriff mit der sich ihm augenblicklich aufdrängenden Vorstellung, weil es die Sprache noch nicht beherrscht. 

Die Begriffe des Kindes stehen den Begriffen der Tiere nahe. Und Preyer verwechselt immer wieder unmittelbare Vorstellungen mit begrifflich fixierten Erinnerungen. Einige Beispiele Preyers sprechen schlagend gegen ihn. Er findet es logisch gedacht, wenn das Kind noch vor dem Gebrauch der Sprache eine Tür daraufhin untersucht, ob sie geschlossen sei oder nicht. Dann müßte er aber auch vom Hunde, der in noch klarerer Absicht mit der Pfote an der Türe kratzt, behaupten, daß er ohne Sprache "logisch" denke. 

Bewundernswert logisch findet es Preyer auch, wenn ein anderthalbjähriges Kind Vergnügen daran findet, mit einer leeren Gießkanne von Blumentopf zu Blumentopf zu gehen und jeden scheinbar zu begießen; er sagt ausdrücklich, es sei da für das Kind der Begriff "Gießkanne" identisch mit dem Begriffe "gefüllte Gießkanne". Ein Erwachsener wäre um diese Art Logik nicht zu beneiden. Der Denkprozeß, wonach in einer Gießkanne unbedingt Wasser enthalten sein müsse, weil in dem Worte der Begriff "gießen" stecke, erinnert ganz verzweifelt an die unerträglichen Spitzfindigkeiten der Scholastiker; hätte das Kind wirklich einen solchen Schluß gezogen, so wäre es beinahe so sophistisch weise wie Anselm von Canterbury und seine Nachfolger, welche in ihrem berühmten ontologischen Beweise die Existenz Gottes daraus herstellen, daß im Begriff der Vollkommenheit auch der Begriff der Wirklichkeit mit verborgen sei. 

So dumm ist aber das Kind gar nicht. Es hat mit der Gießkanne nicht logisch operiert, sondern in kindlicher Weise gespielt. In einer Weise, die unentschieden läßt, wie weit das Kind sich des Spieles bewußt ist. Kinder dieses Alters halten auch das Versteckspielen für eine ernsthafte Beschäftigung. Was Preyer für vorsprachliche Logik gehalten hat, für eine wortlose Schlußfolgerung, das ist Phantasie, das ist Poesie.

Quelle: Fritz Mauthner Wesen der Sprache - Beiträge zu einer Kritik der Sprache
Erster Band, Stuttgart/Berlin (1906); IX.: Denken und Sprechen

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