Dienstag, 10. Oktober 2017

Wieviel Erfahrung steckt in der Transzendentalphilosophie?




Im System gibt es keine Zeit. Aber aus dem System der Vorstellung soll eine Zeit, die ja selber eine Vorstellung ist, entstehen. Die Aporie ist Fichte nicht entgangen. Nicht aus dem Setzen soll daher die Zeit entstehen, das ge- schieht idealiter alles gleichzeitig; sondern durch das Deliberieren: das Abwägen und Wählen aus mannigfal- tigen Möglichkeiten. In diesem retardierenden Moment geschieht nichts – und gerade das dauert.

Die Hirnphysiologen haben – das ist nun aber auch schon eine Weile her – aus dem Umstand, dass jeder Zustand des Gehirns unvermeidlich auf einen und aus einem vorhergehenden Zustand folgt, ohne dass ein Zentralorgan namens Ich eingriffe, auf die Determiniertheit unseres Willens geschlossen und die Freiheit be- stritten. Eine wichtige Rolle spielte dabei das Libet-Experiment: Zwischen dem Moment, in dem im Gehirn nachweislich die Breitschaft zu einer bestimmten Handlung x getroffen ist, und dem Beginn ihrer Ausführung vergeht offenbar eine Denkpause von einer Fünftelsekunde. In dieser Spanne könnte – seitens desselben Ge- hirns! – noch der Einspruch geschehen: Nein, tu das nicht! Dieser neuerdings experimentell wieder bestätigte Versuch gibt der Freiheit noch eine ganz kurze, aber dadurch umso größere Chance: Der Mensch kann nein sagen! Nachdem er sie nämlich zum Überlegen genutzt hat.

Nach Fichte nun liegt in diesem Moment des Deliberierens – ganz allgemein: des Übergehens vom Bestimmba-ren zum Bestimmten – nicht nur die (einzige) Realität der Freiheit, sondern überdies die Entstehung der Zeit: der Übergang aus der idealen Tätigkeit ins Sinnliche. In specie geht die Zeit hervor aus unserm Wollen, soweit es ursprünglich als rein angenommen wird: Dass wir wollen, ist gewissermaßen das einzige Apriori, das die Wis- senschaftslehre 'an sich' gelten lässt. Doch das bestimmbare Wollen muss erst bestimmt werden: Man kann immer nur dieses wollen. Die Auswahl aus den unendlich vielen Handlungsmöglichkeiten, alias das 'Entwerfen eines Zweckbegriffs', dauert.

*

Es bringt die Transzendentalphilosophie in Verlegenheit, wenn man einen ihrer Sätze in einen Erfahrungssatz umschreiben kann; denn wozu taugt sie dann noch? Was aus der Erfahrung stammt, wird positiv gewusst, punctum. 

Die Transzendentalphilosophie ist kein hypothetischer Vorentwurf von etwas, wovon man noch keine Erfah- rung hat, aber noch machen will. Natürlich bezieht sie sich auf etwas, das ist, sonst wäre sie überflüssig. Aber doch nicht auf das, was ist: Das setzt sie spekulativ voraus, in der Tat. Sondern auf das, was es bedeutet. Das muss aus dem, was ist, herausgedeutet oder besser: hineingemeint werden (und sich daran bewähren: nämlich in den Vor- stellungen).

Die Transzendentalphilosophie muss sich nicht durch Erfahrung beweisen lassen; theoretisch an dem, was ist. Denn ihr Zweck ist kein theoretischer, sondern ein praktischer. Sie muss sich nicht durch erfahrbar Seiendes begründen lassen; es reicht, wenn das Seiende ihrer Absicht nicht widersteht. Tut sie das - nämlich punktuell -, dann steht der Transzendentalphilosophie eine saure Arbeit von dialektischen Windungen bevor. Tut sie es über- haupt - nämlich in den Augen von diesen und jenen -, kann man nur sagen: Was für eine Philosophie einer wählt, hängt davon ab, was für ein Mensch er ist.
JE





Nota. Das obige Bild gehört mir nicht, ich habe es im Internet gefunden. Wenn Sie der Eigentümer sind und seine Verwendung an dieser Stelle nicht wünschen, bitte ich um Nachricht auf diesem Blog.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen